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Jutta Ditfurth - Worum es geht

Mar 4th, 2015
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  1.  
  2. JUTTA DITFURTH
  3. WORUM ES GEHT
  4. FLUGSCHRIFT
  5. 1 WORUM ES GEHT
  6. 2 WAS IST
  7. 3 WAS DROHT
  8. 4 WAS TUN
  9. ANHANG
  10.  
  11. JUTTA DITFURTH WORUM ES GEHT
  12. ZU DIESEM BUCH
  13. Es gärt. Die Krise nimmt nur ihren nächsten Anlauf. Millionen Menschen haben Angst
  14. vor der Zukunft. Angst und Armut lassen bürgerliche Konsense bröckeln. Rassismus und
  15. Naturzerstörung wachsen. Wir erleben den Beginn einer Totalveränderung. Ein »Weiter
  16. so!« ist unmöglich.
  17. Klug und mit Bedacht legt Jutta Ditfurth die Interessen der Beteiligten offen. Ohne
  18. jeden Alarmismus stellt sie klar, worum es in Wirklichkeit geht. Sie sagt, was uns droht
  19. und was wir tun können, und zeigt Wege für einen radikalen Humanismus. Eine
  20. unverzichtbare Orientierungshilfe für alle, die zum Kern der Debatte vordringen wollen.
  21. ZUR AUTORIN
  22. Jutta Ditfurth ist Soziologin, Publizistin und politische Aktivistin der
  23. außerparlamentarischen Linken. Sie vertritt die Wählervereinigung ÖkoLinX-ARL im
  24. Frankfurter Römer. Ihre Bücher finden Sie auf S. 48.
  25.  
  26. 1 WORUM ES GEHT
  27. Frei und glücklich zu sein ist der Sinn deiner Existenz. Du bist ein wunderbares,
  28. komplexes Produkt der Evolution mit schier unglaublichen Möglichkeiten. Du hast eine
  29. biologische und eine soziale Seite. Ohne Sauerstoff, Wasser und Nahrung kannst du nicht
  30. den dümmsten Gedanken fassen. Ohne andere Menschen überlebst du nicht, ohne dich
  31. mit ihnen auseinanderzusetzen wirst du nicht klüger. Vom ersten Moment deines Lebens
  32. an bist du ein gesellschaftliches Wesen.
  33. Der Sinn des Lebens ist es, dass alle Menschen die gleiche Freiheit haben, ihre
  34. sozialen, sinnlichen, intellektuellen, künstlerischen, handwerklichen und technischen
  35. Fähigkeiten zu entfalten. Die Vorbedingung wirklicher Freiheit ist, dass die Menschen die
  36. gleichen materiellen Möglichkeiten haben, um sich in ihrer individuellen
  37. Unterschiedlichkeit frei zu entwickeln. Dass sie sozial gleich sein müssen, um wirklich
  38. frei sein zu können.
  39. Angeblich herrscht in dieser Gesellschaft ja Gleichheit. Aber was nützt dir diese
  40. formale bürgerliche Freiheit, wenn du kein Geld für eine gute Wohnung hast und keins,
  41. um zu lernen und zu studieren? Was bringt dir das angeblich formal gleiche Recht vor
  42. Gericht, wenn du den besseren Anwalt oder die nächste Instanz nicht bezahlen kannst?
  43. Worin besteht der Wert einer gleichen Wahlstimme, wenn dir das Geld für den Zahnarzt
  44. fehlt und du Lebensmittel von der Tafel annehmen musst?
  45. Gesellschaftliche Verhältnisse herzustellen, in denen der Mensch frei und sozial gleich
  46. ist, ist Zweck und Ziel emanzipatorischer linker Politik. Dem sind im Kapitalismus
  47. erstickend enge Grenzen gesetzt. Du begegnest Leuten, die viel von Freiheit reden und
  48. sogar behaupten, dass du als Bürger und Bürgerin deines Landes »frei« bist. Aber wessen
  49. Freiheit meinen sie? Und was für eine Art von Freiheit? Freiheit wovon und wozu? Deine
  50. Konsumfreiheit als zahlungskräftiger Kunde? Die Freiheit, deine Arbeitskraft, wenn
  51. überhaupt, zu einem Preis zu verkaufen, der nicht einmal ein einfaches, würdiges Leben
  52. finanziert?
  53. Der freie Strom von Geld, Waren, Waffen und Billigarbeitskräften über die
  54. Staatsgrenzen für den maximalen Profit diverser Kapitalfraktionen ist der
  55. Gründungszweck der Europäischen Union (EU). Zum Alltag der EU gehören Ungleichheit
  56. und Unfreiheit der Menschen, die – auf ein besseres Leben gehofft habend – sich in den
  57. Nato-Stacheldrähten europäischer Grenzen verfangen oder im Mittelmeer versinken.
  58. Es herrscht Krieg zwischen »Eliten« und Masse, zwischen den Herrschenden und der
  59. Mehrheit der Bevölkerungen. Mancherorts ist der Krieg offen erklärt. Anderenorts findet
  60. er hinter dem Rücken von Menschen statt, die nicht genau wissen, worunter sie leiden,
  61. und noch weniger wissen vom Leben der anderen. Aber wenn du nicht begreifst – und
  62. dazu gehören Empathie, Wissbegier und Kopfarbeit, die Arbeit an Begriffen –, wie die
  63. Gesellschaft funktioniert, wie kannst du sie dann zum Besseren verändern?
  64. Dieser Krieg heißt Kapitalismus. Er herrscht weltweit. Er ist die Krise unseres Lebens.
  65. Der Kapitalismus ist nicht erst dann unser Problem, wenn er selbst eine Krise hat, er ist
  66. es schon in seinem menschenzerstörenden und naturplündernden Normalzustand.
  67. Wohlhabende und Reiche sind nicht Teil dieses »uns«. Oft haben sie die Krise ja
  68. mitzuverantworten, und viele ihrer Kaste macht sie noch reicher und mächtiger.
  69. Das über seinen terroristischen Normalzustand hinausgehende zusätzliche Dilemma
  70. des Kapitalismus ist seine Krisenhaftigkeit. In unregelmäßigen Abständen überfällt ihn
  71. eine Überproduktionskrise. Das ist eine Gesetzmäßigkeit. Diese Krisen sind mühsam zu
  72. durchschauen. Wenn die Schulbildung schlechter wird und die Propaganda raffinierter,
  73. also in Zeiten wie der unseren, fällt es noch mehr Leuten schwer, die sich verändernde
  74. soziale Realität zu begreifen. Sie finden keine passenden Worte, keine eigene Sprache,
  75. während die Verursacher ihrer Lage mit voller Medienmacht die falschen Begriffe in alle
  76. Köpfe hämmern.
  77. Die Erscheinungsformen des Kapitalismus sind verwirrend vielfältig. Es gibt ruhigere
  78. historische Phasen. Ihre Voraussetzung sind nationale Sondersituationen und dass die
  79. Bevölkerung des Landes die in andere Teile der Welt ausgelagerten Verbrechen des
  80. Kapitals übersieht und verdrängt. Das Leid anderer wegzuschieben ist auch in
  81. Deutschland eine eingeübte Kulturtechnik. Vor 1945 übersahen viele nichtjüdische
  82. Deutsche das »Verschwinden« ihrer Nachbarn. Heute verteidigen Enkel ihre Großeltern,
  83. erneuern alte Rechtfertigungen, obwohl sie den Massenmord an den Juden keineswegs
  84. bestreiten. Es hört nicht auf. Aufklärung stößt vielerorts an ihre härteste Grenze: das
  85. Interesse der Mitglieder einer Klasse, einer sozialen Schicht, ihre Privilegien mit allen
  86. Mitteln zu verteidigen.
  87. Der Kapitalismus ist höchst begabt darin, seine Erscheinungsformen zu ändern, um
  88. sein Wesen über die Jahrhunderte zu retten. Manchmal, unter besonderen Umständen,
  89. gehört dazu auch der offene Faschismus wie in Deutschland nach der
  90. Weltwirtschaftskrise von 1929. »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch
  91. vom Faschismus schweigen«, schrieb Max Horkheimer 1939 über diesen
  92. Zusammenhang.1
  93. Die Verteidiger der herrschenden Verhältnisse sagen heute gern, dass es »uns« noch
  94. nie so gut gegangen sei. Wer ist »uns«? Soll es wirklich um die Emanzipation und die
  95. soziale Befreiung aller Menschen gehen, existiert kein nationales »wir«. Mit »uns«
  96. meinen diese Epigonen meistens sich selbst und ihre Klasse, Profiteure und Fußvolk der
  97. herrschenden Verhältnisse. Von jeder politischen Generation schließen sich ihnen
  98. diejenigen an, die aufgegeben haben, für Veränderungen zu kämpfen – sofern sie je
  99. anfingen –, und nur noch um die Verteidigung ihrer Interessen und der ihrer Familien
  100. kreisen. Vielleicht haben sie sich heute verspekuliert und trauern deshalb der
  101. Nachkriegsphase des Kapitalismus vor 1989 nach, verklären ihn zur »sozialen
  102. Marktwirtschaft« oder als »rheinischen Kapitalismus«. Reformistische Philosophen und
  103. Organisationen geißeln, wenn sie von den anschließenden zwanzig Jahren sprechen, den
  104. »Turbokapitalismus« und »Casinokapitalismus«, als sei der nicht, was er ist: eine
  105. Variation des nun auch in seinem Zentrum enthemmteren Kapitalismus, der nun auch
  106. hier seine Waffen zeigt, welche die Menschen woanders längst am eigenen Leib gespürt
  107. haben, ohne dass dies in Deutschland eine Mehrheit interessiert hätte. Es ist
  108. überraschend, wie wenig die Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus analytisch
  109. durchdrungen und wie sehr sie unterschätzt wird.
  110. Die Protagonisten des falschen »uns« versimpeln seit Jahren Kolonialismus und
  111. Imperialismus zum angeblich neuen Phänomen der »Globalisierung«, als ob der
  112. Kapitalismus nicht von Anfang an raubplündernd und mordend um die Welt gezogen ist,
  113. weil Rohstoffe, billiges Menschenmaterial und Absatzmärkte lockten. Er marschierte bis
  114. an den Scheitel bewaffnet los, sobald das Kapital vorhanden und die notwendige
  115. Nachrichtentechnik sowie Transportwege entwickelt waren.
  116. Der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise des Kapitalismus, auch sie Ergebnis einer
  117. Überproduktionskrise, heften die Verteidiger und Mitläufer der kapitalistischen
  118. Verhältnisse die Etiketten »Eurokrise«, »Bankenkrise«, »Finanzkrise« und
  119. »Staatsschuldenkrise« an. Das ist nützlich, um das kapitalistische System nicht als
  120. Ganzes infrage stellen zu müssen und allenfalls über unzulängliche und falsche, das
  121. System nicht gefährdende Lösungen zu reden. Denn wenn nur Banken und
  122. Finanzspekulanten »böse« sind, lässt sich ja vielleicht der Kapitalismus retten?
  123. Was muss vorausgehen, damit eine junge Arbeiterin oder ein junger Arbeiter sich
  124. wegen unerträglicher Arbeitsbedingungen selbst töten? Dreizehn Mitarbeiter des
  125. Elektronikkonzerns Foxconn in China haben sich im Jahr 2010 umgebracht. Die dreizehn
  126. Toten sind nur eine Nadelspitze der Eisbergkette von iSlavery. Unter der
  127. Meeresoberfläche kapitalistischer »Normalität« liegt die Welt millionenfach
  128. ausgebeuteter, bei der Arbeit verkrüppelter, durch Chemikalien vergifteter, an
  129. Arbeitsunfällen und -bedingungen psychisch und physisch zugrunde gegangener
  130. Menschen. Von denen, die nicht einmal eine solche Arbeit hatten und daran zugrunde
  131. gingen, nicht zu reden. Hinter ihnen stehen viele Ungezählte und Hunderte, die ihr Leben
  132. mühsam aufrechterhalten. Die dreizehn Toten starben an Arbeitsdruck,
  133. Mangelernährung, Überstunden, elenden Quartieren, mieser Gesundheitsversorgung und
  134. endlosen Demütigungen. Während sie in den Tod sprangen, hielten Konsumierende auch
  135. vor deutschen Apple-Stores jubelnd ihr neues iPhone oder iPad in die Luft und
  136. durchschritten stolz das Spalier schlecht bezahlter Angestellter, die erzwungen
  137. »freiwillig« Beifall klatschten.
  138. »Ich habe mich wegen meiner Arbeit bei France Télécom umgebracht«, schrieb ein
  139. Angestellter, bevor er sich tötete. Personalabbau, extreme Arbeitsverdichtung,
  140. Erniedrigungen und Überwachung, soziale Hierarchien, entgrenzte Arbeitszeiten und
  141. maßlose Leistungsanforderungen führten beim französischen Autokonzern Renault 2007
  142. zu einer Selbstmordserie von Mitarbeitern und zwischen 2008 und 2010 bei France
  143. Télécom zur Selbsttötung von 46 Menschen. Überraschend viele Selbstmörder waren
  144. »Kopfarbeiter«, fachlich besonders qualifiziert oder sogar in leitenden Positionen tätig.
  145. In deutschen Konzernen kommt es vor, dass sich Leiharbeiterinnen prostituieren, weil
  146. sie auf eine Festanstellung hoffen. Oft regiert der Alkohol, die Zerstörung nach innen,
  147. seelische Verkrüppelung und Gewalt gegen Nahestehende.
  148. In der Demokratischen Republik Kongo kriechen Kinder, giftige Gase einatmend, in
  149. ungesicherte Stollen, um Metalle der seltenen Erden herauszukratzen. Auch dank ihrer
  150. lungenkranken ausgemergelten Körper ist unsere digitale Kommunikation garantiert.2
  151. Denn die ist offensichtlich wirklich grenzenlos frei – von Empathie und Solidarität.
  152. Krieg, Ausbeutung, Naturzerstörung, Fremdbestimmung und Demütigung haben die
  153. Welt im Griff. Vielerorts »entfaltet« sich statt der individuellen Persönlichkeit eines
  154. Menschen nur das perspektivlose Elend. Und vielleicht die Magenhaut, wenn endlich
  155. einmal Nahrung die Speiseröhre hinunterrutscht, und sei es nur gebackener Brei aus
  156. Erde.
  157. In den satten bürgerlichen Milieus von kapitalistischen Zentren wie Deutschland
  158. bedeutet das Entfalten individueller Fähigkeiten nur allzu oft, Kinder zu brechen und sie
  159. für das kapitalistische Rattenrennen zu stählen. Ihr Selbstbewusstsein wird auf die
  160. falsche Art sozialer Anerkennung getrimmt. Ohne Leistung sind sie nichts wert. Für die
  161. Entsagung von wirklicher Freiheit und Glück werden sie mit Privilegien und
  162. Konsumgütern verwöhnt. Die Sensiblen leiden darunter, aber nur eine winzige
  163. Minderheit dieser elitären Kaste verlässt den goldenen Käfig – in den sie dann doch fast
  164. immer lebenslänglich zurückkann.
  165. Die Sehnsucht nach einem wirklich freien Leben unter Gleichen soll nicht blühen, das
  166. wäre eine gefährliche Sprengkraft. Oft ist es in den letzten Jahrzehnten gelungen,
  167. emanzipatorische Werte lächerlich zu machen. Die große konterrevolutionäre Welle war
  168. sehr erfolgreich. Es gibt kluge junge Frauen, die sich in grandioser Fehleinschätzung ihrer
  169. gesellschaftlichen Lage vor fast nichts mehr fürchten, als für eine Feministin gehalten zu
  170. werden. Es gibt Eltern, die glauben wollen, antiautoritäre Erziehung sei rücksichtslose
  171. Regellosigkeit. In vielen Schulen finden wir nur morsche Reste alter 68er-Ideale. Manch
  172. »linker« Lehrer fördert die rhetorische Selbstherrlichkeit von Mittelschichts- und
  173. Oberschichtskindern und nur ihre »freie« Entfaltung, anstatt die Kinder der anderen, der
  174. Arbeiter und Migrantinnen, der Hartz-IV-Empfänger, Kleinbürger und Subproletinnen
  175. mit den intellektuellen und sozialen Waffen für den Kampf um Erkenntnis und Befreiung
  176. auszurüsten.
  177. Vor unsere Zukunft ist ein blickdichter Vorhang aus Scheinfreiheiten gezogen. Die
  178. Propaganda hierfür funktioniert perfekt: Junge Leute, nach ihren individuellen
  179. Zukunftsvorstellungen befragt, haben oft nicht einmal dafür eine eigene Sprache und
  180. illustrieren ihre Träume mit Bildern aus Werbefilmen. Der Konsumzwang, der sich als
  181. individuelle Wahlfreiheit gebärdet, terrorisiert das Individuum, damit kein kritischer,
  182. rebellischer und subversiver Gedanke aufkommt.
  183. Soziale Gleichheit verlangt, dass jeder Mensch die gleichen materiellen
  184. Voraussetzungen hat, sich zu ernähren, bestmöglich medizinisch versorgt zu sein, gut zu
  185. wohnen, sich zu bilden, am kulturellen Leben teilzunehmen und sich mit den
  186. gesellschaftlichen Verhältnissen ungehemmt auseinanderzusetzen. Wie sollte er sonst
  187. frei sein? Der Mensch ist ein soziales Wesen, welches andere Menschen lebensnotwendig
  188. braucht. Ein Mensch wird in der Auseinandersetzung mit seiner sozialen Umwelt zum
  189. Individuum. Damit alle Menschen sich frei und gleich entfalten können, sich selbst
  190. verwirklichen können, müssen sie von Armut, Unterdrückung und Ausbeutung befreit
  191. werden.
  192. Ein solch radikaler Humanismus braucht die Verankerung im wirklichen Leben des
  193. Menschen. Es gibt für jeden von uns nur dieses eine Leben. Und es existiert schon, wenn
  194. wir neu dazukommen. Es besteht unter komplizierten Voraussetzungen, die wir
  195. verstehen lernen müssen, um nicht zu planlosen Mitläufern unserer Existenz zu werden.
  196. Wir werden vollkommen zufällig in irgendwelche Verhältnisse hineingeboren. Allein
  197. deshalb ist jeder Stolz auf Nation oder Herkunft lächerlich. Wir wissen nicht, wie lange
  198. wir leben. Nach unserem Tod bleibt von uns nichts. Es geht um diesen Zeitabschnitt, der
  199. uns durch den Zufall der Evolution geschenkt ist. Uns und all den anderen Menschen, die
  200. in unserer Zeit leben. Wir können vor uns hinleben oder wir können die Welt verbessern,
  201. für uns, für die Menschen, die mit uns leben, und für die Kinder aller.
  202. Was hält Menschen davon ab, sich so zu entscheiden? Frühes Gebrochensein,
  203. zerstörerische soziale Einflüsse, materielle Interessen? Verblüffend groß ist die Zahl
  204. derjenigen, die meinen, »Gutes« zu tun, und sich beispielsweise in großen Kirchen
  205. organisieren, wo doch diese Institutionen alles dafür tun, dass ihre Anhänger sich in die
  206. herrschende Ordnung, die Ordnung der Herrschenden, einfügen.
  207. Grandios unterschätzt aber wird die entsolidarisierende und antisoziale Wirkung des
  208. modernen Irrationalismus, der Esoterik. Die antiaufklärerischen
  209. »Geheimwissenschaften« gibt es nicht ohne Elitedenken, Antisemitismus und Rassismus
  210. und abgrundtiefe Verachtung angeblich minderwertiger Menschen, so blendend das auch
  211. alles getarnt sein mag. Die Desorientierung des Menschen weg von seinem wirklichen
  212. Leben hin auf Jenseits und Himmel, auf Karma und Reinkarnation, auf Gott, Götter oder
  213. sonst welche »höheren« Instanzen, die nicht existieren, rauben ihm den Verstand, sein
  214. Leben zu verstehen, und die Kraft sowie die sozialen Fähigkeiten, die Gesellschaft zu
  215. verändern. Der Mensch legt sein »Schicksal« in die Hände von All- und Übermächtigen,
  216. fördert, ob er es will oder nicht, Eliten, stützt das »Oben« und »Unten« der herrschenden
  217. Ordnung, befeuert den Rassismus, die Nabelschau und die Ich-Bezogenheit.
  218. Irrationalismen zersetzen wie bösartige Viren die Fähigkeit des Menschen, sein Leben
  219. gemeinsam mit anderen in die eigenen Hände zu nehmen.
  220. Der Irrationalismus mit all seinen esoterischen Facetten ist der größte Feind des
  221. Humanismus und ein Begleiter und Vor(be)reiter antidemokratischer und faschistischer
  222. gesellschaftlicher Entwicklungen. Wahnwelten sichern die Herrschaft von Menschen
  223. über Menschen auf direkte und indirekte Weise, deshalb fördern die Gegner der
  224. Befreiung aller Menschen diese, wo sie nur können. Nebenbei ist der Vertrieb von
  225. Heilslehren samt der esoterischen Konsumgüter und Dienstleistungen ein profitables
  226. Geschäft.
  227. Unser soziales Leben hat, wie schon gesagt, eine biologische Seite: Ohne Luft zum
  228. Atmen, ohne Trinkwasser, ohne Nahrung kann kein Mensch existieren. Ohne das zu
  229. ernährende Hirn kann er nicht denken, weder über sein gesellschaftliches Sein und noch
  230. über sein Verhältnis zur natürlichen Umwelt reflektieren. Ohne seinen Verstand kann
  231. kein Mensch die erste wirksame Waffe gegen unfreie Verhältnisse schmieden: die Waffe
  232. der Kritik für den Weg aus der Unmündigkeit.
  233. Die wirkliche Freiheit des Menschen hat als ihre eine Bedingung die soziale Gleichheit
  234. und als ihre andere einen Zustand von Natur, in dem der Mensch gesund leben kann.
  235. Nichts davon ist verwirklicht. Im Gegenteil. Wir kommen der Befreiung des Menschen
  236. nicht einmal näher. Die tatsächlichen Möglichkeiten einer humanen Gesellschaft und
  237. ihre Wirklichkeit klaffen immer weiter auseinander. Die Weltwirtschaftskrise, die seit
  238. 2007 um die Erde rollt, dient den Herrschenden als Alibi für die beschleunigte Zerstörung
  239. von Freiheiten, Rechten und Errungenschaften, die soziale Bewegungen, allen voran die
  240. Bewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter, erkämpft haben.
  241. Während die Meere zu sterben beginnen, planen unsere Gegner die Natur noch
  242. effizienter auszuplündern. Während Hungersnöte sich ausbreiten wie Wüstenstaub,
  243. berechnen sie, wie sie unsere Arbeit restlos entwerten können. Während sie ein
  244. menschenverträgliches Klima zerstören, wetteifern sie um maximalen Profit.
  245. Glaubt irgendjemand allen Ernstes, dass alles so weitergehen kann wie bisher,
  246. vielleicht mit ein paar marginalen Korrekturen?
  247. 2 WAS IST
  248. In Hunderten von Jahren und in ungezählten blutigen Kämpfen ist die heute herrschende
  249. kapitalistische Ordnung so erfolgreich durchgesetzt worden, dass sie den meisten
  250. Menschen als natürliche Ordnung erscheint. Der brutal hergestellte, aber »stumme
  251. Zwang der Verhältnisse« (Marx) täuscht die Menschen. Sie nehmen ihr
  252. Ausgebeutetwerden nicht wahr. Sie glauben, sie arbeiteten für sich, weil sie auch
  253. konsumieren, ein bisschen Freizeit haben und Überschüsse für »Luxus« wie Urlaub oder
  254. ein Auto anhäufen dürfen.
  255. Der Kapitalismus hat, seit er vor rund 500 Jahren aufkam, mit ungeheurer Wucht den
  256. Feudalismus weggesprengt. Er zwang die Menschen in die Fabriken, veränderte die
  257. gesamte Organisation der Arbeit und des Lebens und machte sich die Natur untertan.
  258. Indem er die feudalen Verhältnisse umgestoßen hat, hat er uns aber keineswegs von
  259. allem befreit, was er vorfand. Patriarchat, Sklaverei und Religion verleibte er sich ein und
  260. modernisierte sie, um uns effizienter auszubeuten und ruhig zu stellen. Diese
  261. Wandlungs- und Integrationsfähigkeit gehört zu des Kapitalismus besonderen und stets
  262. unterschätzten Begabungen. Mit der Erweiterung seiner Unterdrückungsformen – ins
  263. noch diktatorischere und autoritärere bis hin zum offenen Faschismus – rettet er sich im
  264. Allgemeinen aus seinen Krisen.
  265. Es gab aber auch soziale Rechte und Gewohnheiten, die zu übernehmen der
  266. Kapitalismus sich weigerte: die Allmende beispielsweise, das Recht auf kollektives Land.
  267. Oder das Recht auf Faulheit, auf Muße, Tagträumerei, auf »unproduktiven« Genuss,
  268. sofern der nicht dazu diente, die Arbeitskraft für den nächsten Arbeitstag
  269. wiederherzustellen. »Müßiggang« wurde getreu dem christlichen Arbeitsethos »aller
  270. Laster Anfang«. Des Menschen Wert wurde künftig an seiner Arbeitsfähigkeit und seiner
  271. Leistung gemessen. Auch die Mehrheit der Arbeiterbewegung sah das so und wurde
  272. anfällig für Ideologien, die den vermeintlich »unproduktiven« Menschen verachteten:
  273. Eugenik, Rassismus und Antisemitismus, aber auch die Intellektuellen und die
  274. »brotlose« Kunst.
  275. Besonders unproduktiv schien der zu sein, der mit Geld handelte. Dass aber die
  276. Herstellung und Verwertung eines Produkts ohne Rechnungsführung, Management,
  277. Vertrieb, Handel, Kredite, Devisen usw. im Kapitalismus nicht funktionieren kann, blieb
  278. ausgeblendet. Diese Funktionen schöpfen zwar selbst keinen Wert, weil Buchhalter,
  279. Manager, Händler, Banker ja selbst nichts Konkretes herstellen (auch wenn sie manche
  280. ihrer Dienstleistungen und Geschäfte heute gern Produkte nennen), aber ihre
  281. Funktionen sind kapitalistisch notwendige. Sie sind die Kehrseite des
  282. Produktionsprozesses.
  283. Der produzierende Mensch schafft ein Produkt. Der Kapitalist eignet sich, indem er
  284. den Lohnabhängigen ausbeutet, diesen geschaffenen Gebrauchswert als Mehrwert an.
  285. Ausgebeutet ist der Lohnabhängige deshalb, weil er gezwungen ist, seine Arbeitskraft, um
  286. leben zu können, zu einem Preis zu verkaufen, den er nicht bestimmt, und weil er
  287. aufgrund der gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse niemals den wahren Wert seiner
  288. Arbeit als Lohn erhält. Die Umformung eines Rohstoffs durch eine Arbeiterin zu einem
  289. Gegenstand ist die konkrete Seite desselben Kapitalismus, der einen Händler handeln
  290. und eine Bank zocken lässt. Man kann die Banken nicht bekämpfen, ohne den
  291. Kapitalismus zu bekämpfen. Es gibt keine Trennung von Produktiv- und Finanzkapital.
  292. Auch um die heutigen Banken loszuwerden, muss man den Kapitalismus abschaffen.
  293. Es geht im Kapitalismus darum, Geld in mehr Geld zu verwandeln. Produkte sind
  294. nichts als Mittel zum Zweck. Es geht auf dem kapitalistischen Markt nicht um den
  295. rationalen Tausch von Gebrauchsgütern, sondern um die Rückverwandlung von Waren in
  296. mehr Geld. Zweck der Sache ist die Realisierung des von den ausgebeuteten Arbeitern in
  297. abhängiger Lohnarbeit geschaffenen Mehrwerts zur Maximierung des Profits des
  298. Kapitalisten.
  299. Um noch mehr dieser Produkte, dieser Mittel zum Zweck, verkaufen zu können,
  300. müssen Bedürfnisse geweckt werden. Ihre Befriedigung ist nicht der Sinn der ganzen
  301. Sache, sondern auch nur ein Abfallprodukt kapitalistischer Produktion. Das Kapital
  302. bezahlt Werbeagenturen, damit sie den Menschen Bedürfnisse einreden. Fettere Autos,
  303. mehr Kleidung, Kosmetik, die jung hält.
  304. Den größten Erfolg aber hat das Kapital, wenn es ihm gelingt, die Träume des
  305. Menschen zu okkupieren, die Bilder des Menschen von sich selbst. Wenn es ihm gelingt,
  306. die Sehnsucht nach Freiheit, nach einem angstfreien, selbstbestimmten Leben, durch den
  307. Wunsch nach Ersatzwelten zu unterlaufen, nach käuflichen Ersatzwelten aus
  308. Konsumgütern und Dienstleistungen, für die leider hingenommen werden muss, dass die
  309. Natur geplündert wird und Menschen sich totschuften.
  310. Die Sache mit dem Konsum ist vertrackt. Ein Teil des Konsums ist lebensnotwendig:
  311. Essen, Kleidung, gelegentlich Medikamente. Anderes notwendig: Möbel, Bücher,
  312. Werkzeug. Aber ein riesiger Anteil des Konsums bedient vor allem zwei Funktionen: Die
  313. des drogenähnlichen Ersatzes für ein autonomes, freies Leben und die der Integration des
  314. Konsumierenden in die bestehenden Verhältnisse.
  315. Das Kapital muss, jedenfalls in den kapitalistischen Zentren, die Menschen mit der
  316. Teilhabe am relativen Wohlstand locken. Wäre die Unzufriedenheit in den Zentren so
  317. groß wie an seiner Peripherie, wäre die herrschende Ordnung bedroht. Diese
  318. Bedürfnisbefriedigung ist janusköpfig: Auf der einen Seite steht eine Flut betäubender,
  319. nutzloser, schädlicher, aber auch arbeitserleichternder, hübscher und unterhaltsamer
  320. Produkte. Auf der anderen Seite haben die Bedingungen der Rohstoffbeschaffung, ihre
  321. Verarbeitung und die Folgen der Produktion Landstriche verseucht, Armut verbreitet,
  322. Kriege angeheizt und arbeitende Menschen krank gemacht. Und die nutzlos-nützlichen
  323. Produkte sind vielleicht Spielzeuge mit krebserregenden Weichmachern, auf denen
  324. Kinder herumkauen; Medikamente ohne therapeutischen Nutzen und mit tödlichen
  325. Nebenwirkungen; Lebensmittel aus laboraromatisiertem Dreck.
  326. Was ist der Einbruch in einer Bank gegen ihre Gründung? Was ist ein Joint gegen den
  327. allgegenwärtigen Konsumrausch? Die bunte Welt der Waren ist die Superdroge. Der
  328. Mensch ist Arbeit und Konsum. Will er innerhalb dieser perversen Logik seinen »Wert«
  329. steigern, weil er seinen eigentlichen Wert nicht kennt, benötigt er Mittel zur materiellen
  330. Distinktion, zur abgrenzenden und andere Menschen abwertenden Unterscheidung. Er
  331. muss teurere, seltenere, ja auch offen sinnlosere Konsumgüter kaufen als die anderen.
  332. Wir leben in einer Gesellschaft voller Suchtkranker, deren Zustand als normal
  333. definiert wird. Keine Regierung und kein Gesundheitssystem planen, sie auf Entzug zu
  334. setzen. Dem Drogendealer und seinen Kumpanen gelingt es sogar, dem Suchtkranken
  335. einzureden, Herstellung und Vertrieb der Droge geschähen in seinem besten Interesse,
  336. ihr »Standortinteresse« sei identisch mit unserem Interesse an einem guten Leben.
  337. Viele Menschen funktionieren störungsfrei: statt ihre knappe freie Zeit für Schönes zu
  338. nutzen, shoppen sie. Statt Vögeln, Lesen, Streiten, Spielen, Musikmachen, Spielen,
  339. Recherchieren, Erfinden, Reisen und Denken, müllen sie, für ein paar Stunden aus dem
  340. Arbeitspferch »frei«gelassen, ihren Kopf zum Beispiel mit den vergleichenden Daten von
  341. Konsumgütern zu. In der so verschwendeten freien Zeit werden sie auf doppelte Weise
  342. für die kapitalistische Wirtschaftsordnung zugerichtet: Sie kaufen und mehren den Profit
  343. derer, von denen sie ausgebeutet werden. Zweitens helfen sie, die Verhältnisse zu
  344. stabilisieren, unter denen sie oft genug leiden, weil sie nichts Subversives mit ihrer
  345. kostbaren arbeitsfreien Zeit anzufangen wissen.
  346. Der schäbige Ersatz für ein selbstbestimmtes Leben sind die Scheinfreiheiten und
  347. Scheinidentitäten des Massen- und Luxuskonsums. Ich bin, was ich kaufe. Mein Auto /
  348. mein Flachbild-TV / mein iPhone usw. usf. Konsum und virtuelle Realitäten ersetzen
  349. eine echte Teilnahme an gesellschaftlichen Entwicklungen.
  350. Aus der überbordenden Warenvielfalt lassen sich Kleidung und andere Insignien eines
  351. »persönlichen, individuellen Stils« auswählen, dessen Zurschaustellung Identität zu
  352. stiften scheint. Aber diese gekauften Identitäten sind Schimären. Die Konsumdroge mag
  353. eine Zeitlang die alltägliche Demütigung überdecken, in hierarchischen Strukturen zu
  354. arbeiten und Sinnloses, Fremdbestimmtes, gar Schädliches herzustellen. Auf Dauer aber
  355. nützt die Droge Konsum als Ventil nichts. Der denkende Mensch ertappt sich in der Falle
  356. unzufriedener Zufriedenheit, in einer mit Waren vollgestopften Leere.
  357. Spätestens wenn man seine Telefonrechnung nicht bezahlt, sind die Leitungen zur
  358. Außenwelt und ins world wide web schneller gekappt, als Eis in tropischer Sonne
  359. schmilzt. Es ist keine technische, sondern eine soziale Frage. Wer kein Handy und keinen
  360. Internetzugang besitzt, kann nicht mitmachen, wird isoliert und aus der Gemeinschaft
  361. ausgeschlossen. Diesem Zwang der Verhältnisse können sich Jugendliche und
  362. Erwachsene kaum entziehen.
  363. Sofern die Rechnung bezahlt ist und die Technik funktioniert, betritt der Mensch das
  364. Reich der Überwachung, der Manipulation und des grenzenlosen Konsums. Es verändert
  365. seine Art, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Und dann beginnt die Sisyphus-
  366. Arbeit, denn in diesem Giftmüllgebirge von Desinformation und Schrott sind winzige
  367. Perlen wertvoller Information nicht zu surfen, sondern zu schürfen.
  368. Die Methoden, mit denen sie die – nicht mehr so – neuen Techniken durchsetzen,
  369. haben zwei Gesichter. Das eine lacht: Ich bin ein neues Spiel, ich verspreche Spaß! Das
  370. strenge sagt: Sei flexibel verfügbar, schnell, effizient, du fliegst sonst aus dem
  371. Rattenrennen, das immer rasender wird. Die Sklaveneigenschaften werden dadurch
  372. gezuckert, dass die Technik auch eine private nützliche Seite hat.
  373. Aber sie beschädigt unsere Freiheit und Selbstbestimmung, indem mit ihr unsere
  374. Bewegungs- und Verhaltensmuster, unsere Konsumgewohnheiten, sozialen Kontakte und
  375. Gespräche abgefischt werden. Die kapitalistische Entwicklung der Informationsund
  376. Kommunikationstechnologie unterwirft die Menschen Schritt für Schritt einer
  377. allumfassenden Kontrolle aller Lebensbereiche.
  378. Bank-, Scheck- und Gesundheitskarten, Handys, Satellitennavigationssysteme, EMails,
  379. Internet, facebook und twitter usw. usf. scheinen das Leben der Menschen in
  380. Zeiten der ansteigenden intensiven wie extensiven Ausbeutung leichter und bequemer zu
  381. machen und »schenken« den Ausgeworfenen, solange sie die Teilhabe bezahlen können,
  382. einen sinnlosen Sinn. Die oberflächliche oder tatsächliche Attraktivität der Waren
  383. verbirgt das in ihnen steckende zerstörerische Potenzial. Der Konsument macht sich
  384. selbst dumm, um konsumieren zu können. Die weltweite Diskussion über Elektrosmog
  385. ist beispielsweise am Hype über die Smartphones erstickt. Der Konsument will sich das
  386. Spielen nicht verderben lassen. Er verweigert die Aufnahme kritischer Informationen,
  387. weil er sonst sein Spielzeug nicht mehr skrupelfrei benutzen könnte. Wie zum Ausgleich
  388. interessiert er sich noch viel weniger für die Arbeitsbedingungen in den chinesischen
  389. Sonderwirtschaftszonen oder auf den Giftmüllhalden aus deutschem Elektronikschrott in
  390. Ghana.
  391. Heute können alle alles leichter erfahren, sofern wir die richtigen Werkzeuge
  392. einsetzen. Wir können fragen: Wie viel Blut klebt an diesem lustigen Produkt, das ich in
  393. Händen halte? Von welchen Rohstoffen handelt dieser Krieg? Wir könnten wissen
  394. wollen, warum der Soldat, der aus Afghanistan oder einem anderen
  395. »Menschenrechtseinsatz« in einem Sarg heimkehrt, sich zum Töten ausbilden ließ und
  396. wie viele Menschen er tötete, bevor er starb. – Eine Gesellschaft, die sich all diese Fragen
  397. nicht stellt, ist schwerkrank.
  398. Indem der Konsument sich darin übt, zu verdrängen, damit er ohne schlechtes
  399. Gewissen konsumieren kann, trainiert er soziale Verhaltensweisen, welche die
  400. Gesellschaft zu ihrem Nachteil verändern. Jeder Bildschirm auf einem Bahnsteig zieht
  401. des Konsumenten Aufmerksamkeit von den real existierenden Menschen neben ihm ab.
  402. Er verzichtet auf autonome Erkundungs- und Lernprozesse, weil er im Internet ja
  403. angeblich jede Auskunft »findet«, deren Qualität er aber nicht bewerten kann. Gibt es
  404. Hoffnung auf Verweigerung, Subversion? Wir werden später sehen.
  405. Die neuen Techniken sind Kavallerien trojanischer Pferde. Versteckt unter Effizienz
  406. und Bequemlichkeit verbergen sich neue Möglichkeiten der sozialen Kontrolle und
  407. Prägung, die sich, kaum hineingelassen, im privaten und öffentlichen Leben und im
  408. Arbeitsleben der Menschen ausbreiten und einrichten: Lauschangriff in der Wohnung,
  409. Videoüberwachung im öffentlichen Raum, Kontrolle und Manipulation des
  410. Konsumverhaltens, totale Bespitzelung des Individuums durch biometrische Daten,
  411. drangsalieren politischer Meinungsäußerungen, die vom Mainstream abweichen.
  412. Das Verdrängen und blinde Konsumieren schärft die Angst vorm Nachbarn: diffuse
  413. Bedrohungen vom Terrorangriff bis zum Taschendiebstahl schüren ein Klima, in dem die
  414. Menschen der Einschränkung ihrer Freiheit fortwährend zuzustimmen. Die Menschen
  415. werden zum bloßen gläsernen Objekt des kapitalistischen Verwertungsinteresses,
  416. kontrolliert, manipuliert, gesteuert. Ihrer Unsicherheit opfern sie die Reste ihrer Freiheit
  417. für nur noch mehr Unsicherheit und Unfreiheit.
  418. Es geht im Kapitalismus, wie gesagt, nicht um die Herstellung von Produkten, sondern
  419. um Profit, um Geld, um die Mehrung des eingesetzten Kapitals. Dafür wird unsere
  420. Arbeitskraft ausgebeutet. Die Produkte sind nur die Mittel für diesen Zweck. Der
  421. Lohnarbeitende stellt ein Produkt her. Die Differenz zwischen dem, was er – oder sie – an
  422. Lohn bekommt und was die Kapitalistin zum Beispiel für die Maschinen aufwendet, und
  423. dem, was der Kapitalist als Preis für das Produkt erhält, ist der Mehrwert. Alles
  424. Wirtschaften im Kapitalismus, alle Beschäftigung, alle Einkommen, alle Marktprozesse
  425. sind von der erfolgreichen Mehrwertproduktion abhängig. Sie liegt dem
  426. Wachstumszwang im Kapitalismus zugrunde und begründet die Konkurrenz der
  427. Kapitalfraktionen untereinander. Wachstumszwang und Konkurrenz führen zu
  428. Überproduktionskrisen, die dem Kapitalismus immanent sind. Überproduktionskrisen
  429. sehen sehr unterschiedlich aus.
  430. Kapitalismus ist auch in seinen ruhigsten Zeiten – die es ja nur um der Preis der
  431. Ignoranz der Grausamkeiten gibt, die er anderswo anrichtet – kein »Markt« und keine
  432. »Marktwirtschaft«, in der »freie« Menschen nützliche Produkte gegen Geld tauschen.
  433. Der kapitalistische Markt ist kein Gemüsemarkt, sondern die Sphäre der Realisierung des
  434. Mehrwerts, der in die Ware gesteckten Arbeit und der sonstigen Aufwendungen. Das
  435. bedeutet: Auf dem Markt geht es nur um die Rückverwandlung der Waren in mehr Geld,
  436. als zuvor in sie investiert worden ist. Der irrationale Selbstzweck der »schönen
  437. Maschine« Kapitalismus ist es, unaufhörlich Geld aufzuhäufen und als Kapital wieder in
  438. den Produktionsprozess einzubringen. Die Konkurrenz im Kapitalismus treibt die
  439. Produktivitätssteigerung durch neue Technologien voran. Die heute erreichte
  440. Produktivitätssteigerung könnte unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen den
  441. Menschen als freie Zeit zur Verfügung gestellt werden, so dass sie weniger arbeiten
  442. müssten und dennoch gut leben könnten. Aber im Kapitalismus wird dieser
  443. Produktivitätszuwachs benutzt, um Arbeitskraft überflüssig zu machen. Wozu vierzig
  444. Facharbeiter einstellen, wenn es ein Dutzend Sklavenarbeiter zu Dumpingpreisen
  445. machen oder ein Roboter noch billiger? Der einzelne Kapitalist kann sich, selbst wenn er
  446. das wollte, diesem strukturellen Zwang, die Produktivität zu steigern, nicht entziehen –
  447. außer um den Preis seines Untergangs. So sind die unaufhebbaren kapitalistischen
  448. Spielregeln.
  449. Wir sind im sechsten Jahr dieser Weltwirtschaftskrise mit den verschiedenen Namen.
  450. Ganze Volkswirtschaften gehen zugrunde, und auch wenn sie sich wieder zu erholen
  451. scheinen, ändern sich die sozialen Strukturen der Gesellschaften drastisch und wir finden
  452. danach noch mehr Menschen dauerhaft ins Elend gestürzt als zuvor. Alle Versuche, die
  453. Krise zu bändigen, sind bisher gescheitert. Aus der letzten Weltwirtschaftskrise rettete
  454. sich der Kapitalismus in Faschismus und Weltkrieg. Welche »Lösung« wird ihm diesmal
  455. einfallen?
  456. 3 WAS DROHT
  457. Niemand weiß, wie diese Weltwirtschaftskrise ausgehen wird. Kaum läutet ein
  458. Hohepriester der herrschenden Verhältnisse ihr Ende ein, nimmt sie ihren nächsten
  459. Anlauf. Viele Linke hofften, dass die Krise das Ende des Kapitalismus bedeutet.
  460. Tatsächlich beobachten wir, dass sie die heutige Ordnung nicht beseitigt, sondern die
  461. gesellschaftlichen Verhältnisse brutalisiert.
  462. Lange ging es vielen Handwerkerinnen, Facharbeitern, Akademikerinnen und der
  463. technischen Intelligenz materiell gut, und sie ignorierten die grundsätzliche
  464. Zerstörungskraft des Kapitalismus. Dann platzten ihre Baudarlehen, Rentenfonds,
  465. Aktiendepots und sonstige Geldanlagen und mit ihnen ihre materielle Sicherheit, die
  466. Zukunft und die ihrer Kinder und Enkel. Plötzlich, manchmal zu ihrem eigenen
  467. Erschrecken, sehen auch sie die Welt mit anderen Augen.
  468. Der Kapitalismus funktioniert, auch wenn er einmal keine Krise hat, immer nur in den
  469. Augen seiner Profiteure störungsfrei. Bereits sein Normalbetrieb beruht darauf, dass er
  470. Mensch und Natur verbraucht und ruiniert. Indem er jene beiden einzigen
  471. »Springquellen des Reichtums« (Marx) – die menschliche Arbeitskraft und die
  472. Naturressourcen – so profitabel wie nur möglich verwertet, zerstört er sie und beraubt
  473. sich damit tendenziell seiner eigenen Grundlage. Er versucht sich dieser Gefahr, von der
  474. er weiß, auf zweierlei Weise zu entziehen: Erstens indem er mit neuen Technologien der
  475. Erde noch mehr Ressourcen abpresst. Zweitens indem er die menschliche Arbeit bis unter
  476. die Hungergrenze verbilligt oder gleich möglichst viele Menschen durch Automation
  477. ökonomisch gänzlich überflüssig macht.
  478. Verschiedene Kapitalfraktionen sind auf unterschiedliche Weise von der
  479. Weltwirtschaftskrise betroffen, denn sie zertrümmert Branchen, lässt Konzerne
  480. fusionieren und ganze Betriebe verschwinden. Wir werden den Kapitalismus dennoch
  481. leider nicht los, er ändert »nur« seine Gestalt. Er rüstet auf und wird mit moderneren
  482. Waffen auf uns und auf die Natur eindreschen, mit ideologischen, ökonomischen und
  483. militärischen. Er wird autoritärer, barbarischer, raffinierter.
  484. Die gegenwärtig vom Kapitalismus und den ihm immanenten Überproduktionskrisen
  485. ausschließlich selbst verursachten Störungen seiner Geschäfte befördern neue Raubzüge
  486. und Kriege. Nicht nur im Pazifik, in der Arktis und im Kaukasus rasseln Großmächte mit
  487. ihren Waffen.
  488. Deutschland ist kein harmloses Land, welches die Lage der Welt lediglich mit
  489. Besorgnis, aber im Wesentlichen unbeteiligt beobachtet. Deutschland ist Mittäter.
  490. Deutsches Kapital befindet sich auf Raubzügen in der ganzen Welt. Der deutsche Staat
  491. maßt sich die Führungsrolle in der EU an, ermächtigte sich, die Regierungen anderer
  492. Staaten zu kontrollieren, und seine Politik ließ andere Staaten in die Knie gehen.
  493. Der Staat unterdrückt soziale Unruhen, beschafft dem Kapital die nötige Infrastruktur,
  494. sorgt für die Ausbildung seines Personals, schenkt ihm unseren gesellschaftlichen
  495. Reichtum durch Privatisierung, moderiert Konflikte zwischen Kapitalfraktionen und
  496. sichert ihre gemeinsamen beziehungsweise dominanten Interessen politisch und
  497. militärisch ab. Das Verhältnis von Staat und Kapital ist in seinem Kern heute noch wie im
  498. Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels 1848 beschrieben: »Die
  499. moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der
  500. ganzen Bourgeoisieklasse verwaltet.«
  501. Die Bundeswehr war von der Remilitarisierung 1955 der Bundesrepublik bis zur
  502. Auflösung der Sowjetunion 1991 stets eine angebliche Verteidigungsarmee. Die
  503. Verteidigungspolitischen Richtlinien, drastisch verändert 1992 und 2003, erlauben heute
  504. den Einsatz des Militärs auch im Innern des Landes gegen die politische Opposition,
  505. gegen Streikende, gegen Flüchtlinge. Noch wird nicht eingesetzt, was möglich ist, aber die
  506. Waffen und Strategien liegen griffbereit in den Safes des »Sicherheits«staates. Die
  507. Richtlinien erlauben außerdem Kampfeinsätze und Kriege überall in der Welt, sobald
  508. deutsche »Sicherheits«fragen berührt sind. Diese »Sicherheit« ist längst das Gegenteil
  509. von Freiheit und nur ein Codewort für die Absicht, sich mit Gewalt an den Ressourcen
  510. anderer Staaten zu vergreifen.
  511. Es werden, um die Mehrwertproduktion anzukurbeln, nahezu unberührte Teile der
  512. Natur – vom Arktischen Ozean bis zur Sahara, von der Mongolei bis in den Norden
  513. Kanadas, von Äthiopien bis Angola – neu verwertet. Deutsche sowie andere europäische,
  514. russische, chinesische, indische, kanadische und US-amerikanische Staaten und
  515. Konzerne können Meere leerfischen, Kontinente und Meeresböden nach Öl durchbohren,
  516. Gesteine auspressen und fruchtbares Ackerland mit Pipelines durchgraben. Böden, die
  517. Millionen Menschen ernähren könnten, werden weltweit dem Biosprit für Autos und
  518. Maschinen und der Fleischproduktion geopfert. Bei der giftgeschwängerten Suche nach
  519. seltenen Erden entstehen chemikaliengetränkte Mondlandschaften, die das Wüstenband
  520. der Erde vergrößern und damit das Elend der Menschen.
  521. Der Reichtum des deutschen Bürgertums begründet sich auf rund 500 Jahre
  522. Kapitalismus, auf Kolonialismus, zwei Weltkriege, auf Faschismus, Arisierung und
  523. Zwangsarbeit, auf der gewaltsamen Enteignung der Arbeitsmittel der eigentlichen
  524. Produzenten, auf Ausbeutung der Natur und der so genannten Dritten Welt – bis heute.
  525. Das weiß der Bürger, das weiß die Bürgerin. Das verheimlichte Wissen prägt ihren Blick
  526. auf die Welt. Von ihrem Anteil an der Beute wollen sie nicht lassen, auch die Mehrheit
  527. des aufgeklärteren Teils des Bürgertums nicht. Das erklärt ihre Aggressivität gegenüber
  528. jeder radikal-humanistischen Kritik und ihre Sucht nach konfliktlosen, harmonischen
  529. Zuständen, weil doch jedes Lüpfen des schweren Teppichs, der ihre Geschäftsgrundlagen
  530. zudeckt, ihre Verbrechen – und die Verbrechen, von denen sie profitiert haben – enthüllt.
  531. Das erklärt auch, warum jede grundsätzliche Kritik an den gesellschaftlichen
  532. Verhältnissen, so schnell als obszön stigmatisiert, als geisteskrank pathologisiert oder als
  533. terroristisch denunziert werden muss.
  534. »Glück« besteht für das Bürgertum nicht aus dem Wohlbefinden aller Menschen.
  535. Lässt sich aus der Lage »fremder« Menschen kein Geschäft machen, verschwinden sie –
  536. außer dem Dienstpersonal – aus dem Blickfeld. Wenn der Lohnarbeitende – also der
  537. Produktive und Mehrwertschaffende – sich erhebt und ein freies und glückliches Leben
  538. unter Gleichen fordert, wird der Besitzbourgeois verrückt. Und steht der Mensch auf,
  539. obwohl er nicht mehr nützlich ist, keiner Erwerbsarbeit nachgeht, schwer behindert ist,
  540. krank oder alt, dreht der Kapitalist vollends durch. Alles Geld, was der Wohlfahrt der
  541. Unnützen dient, schmälert seinen Profit. Diese Furcht befeuert eine Vielzahl
  542. utilitaristischer Diskurse, in denen der Mensch nach seiner ökonomischen Nützlichkeit
  543. bewertet wird.
  544. Bei der Flucht aus seinen Widersprüchen hilft dem Bürger und der Bürgerin, wenn sie
  545. die Opfer der Verhältnisse, von denen sie profitieren, für »selbst schuld« an ihrer miesen
  546. Lage erklären können. Deshalb die schrillen Töne aus den Musikantenstadln der
  547. deutschen Gesellschaft, aus dem Mainstream der Stammtische, der Wirtschaftsverbände
  548. und Kulturinstitutionen, der Sportvereine und Hochschulen. Die Armen sind selbst
  549. schuld an ihrem Elend, würden sie sich nur anstrengen, ihre Kinder ökologisch ernähren
  550. und nicht so viele schäbige Fernsehprogramme ansehen, obwohl die doch extra zu ihrer
  551. Ruhigstellung geschaffen wurden. Die Kranken sind selbst schuld – sofern nicht privat
  552. versichert –, gewiss haben sie geraucht, getrunken, in ungesunden Wohnungen an viel
  553. befahrenen Straßen gelebt und falsch gearbeitet. Die Alten sind selbst schuld, weil
  554. unproduktiv.
  555. Ganz besonders groß aber ist die Selbstschuld der »Fremden«. Angefeindet,
  556. staatlicherseits schikaniert und verfolgt sowie in jeder Hinsicht auf eigene Kosten
  557. versuchen antirassistische und antifaschistische Linke seit Jahrzehnten, den deutschen
  558. Inhumanismus zu bekämpfen. Aber Deutschland ist durchtränkt von einem in löchrigem
  559. Gehege gehaltenen Antisemitismus und vom Rassismus. Wenn, wie in der Münchner
  560. Reithalle, ein gutbürgerlicher Mob selbst moderat-kritische Fragen an Thilo Sarrazin
  561. niederbrüllt, dann sind wir mittendrin. Mit einem NPD-Verbot wäre diese Meute nicht
  562. erfasst.
  563. Weil die Angst vor dem sozialen Absturz das Bürgertum in guter deutscher Tradition
  564. aggressiv macht und nicht solidarisch, sind Hassbilder von feindlichen, fremden,
  565. minderwertigen Menschenmassen sehr wirksam. Denn mit der Obrigkeit und den
  566. Konzernspitzen, den oberen Etagen der sozialen Hierarchien, auf die sich ja sein Ehrgeiz
  567. richtet, legt sich ein deutscher Untertan selten an.
  568. W e n n die Fremden von Nazis ermordet werden, sind sie durch ihr Fremdsein
  569. irgendwie selbst dafür verantwortlich. Wenn sie im Mittelmeer ertrinken – hätten sie
  570. nicht zu Hause in »ihrer Kultur« bleiben können? Dann wären sie an unserer schließlich
  571. nicht zugrunde gegangen. Wenn sie in »Entwicklungs«ländern leben und dort
  572. verhungern, sind sie auch selbst schuld – warum sind sie auch »zu viele«?
  573. Was droht? Die Interessen der EU-Staaten prallen aufeinander. Das deutsche Kapital
  574. hat sich an EU-Europa groß gefressen und frisst weiter. Die Verbilligung der Arbeit in
  575. Deutschland hat die deutsche Exportwirtschaft an die Spitze katapultiert. Durch deutsche
  576. Mitverantwortung brechen ärmere europäische Staaten vollends ein. Die Bevölkerungen
  577. etwa von Spanien und Griechenland bekommen das zu spüren. Aber über die
  578. geostrategischen Interessen Deutschlands wird nur im Ausland diskutiert, hier lediglich
  579. in linken Publikationen, so dass hier fast niemand versteht, was das Gekauder »Europa
  580. spricht jetzt deutsch« anderswo an historischen Erinnerungen und berechtigtem Zorn
  581. auslöst.
  582. Im Takt jedes einzelnen Wimpernschlags eines nervösen Menschen stirbt irgendwo auf
  583. der Welt ein unterernährtes Kind. Die Lebenserwartung eines Menschen in Afrika liegt
  584. durchschnittlich zwanzig Jahre unter der eines Deutschen. Jeder siebte Mensch auf der
  585. Welt hungert, eine Milliarde Menschen sind es insgesamt. Schon vor der
  586. Weltwirtschaftskrise mussten vierzig Prozent der Weltbevölkerung mit einem US-Dollar
  587. am Tag auskommen. Nur ein Drittel der Weltbevölkerung hat Zugang zu sanitären
  588. Einrichtungen. Das alles hat das Bürgertum in den kapitalistischen Zentren bisher nie
  589. wirklich in seinen Fundamenten erschüttert. Ablasszahlungen zu Weihnachten, nach
  590. Tsunamis und Erdbeben, bieten Ventile.
  591. Was droht? Mit der Verschärfung der Weltwirtschaftskrise, so fürchte ich, wird ein
  592. großer Teil der Weltbevölkerung noch härter als »überzählig« attackiert werden als
  593. bisher. Der Nutzen ist klar: Die krisengeschüttelte Menschheit soll zum Vorteil einer
  594. einflussreichen Minderheit gespalten, die Ursachen der Naturzerstörung vernebelt und
  595. der vorzeitige Tod von Millionen Menschen relativiert werden. Es soll aber auch um jeden
  596. Preis verhindert werden, dass neue soziale Unruheherde entstehen und bestehende sich
  597. verbünden.
  598. Entgegen allen Fakten gelten nicht Imperialismus und Kapitalismus, sondern die
  599. »Überbevölkerung« als wesentliche Ursache von Armut, Hunger und Naturzerstörung.
  600. Die üblichen Berichte über die Entwicklung der Weltbevölkerung sind meist mit Bildern
  601. eng gedrängter dunkelhäutiger Menschenmassen illustriert, selten mit Bildern
  602. Hellhäutiger im Feierabendverkehr, beim Schlussverkauf oder in Autobahnstaus zu
  603. Ferienbeginn.
  604. Wenn Menschen als überzählig gelten und ihr Leben angeblich die ökologischen
  605. Grundlagen »unserer« unvergleichlich wertvolleren Existenz bedroht, leben sie
  606. gefährlich. Man plündert sie aus, sperrt sie in Lager, schiebt sie ab, lässt sie im
  607. Mittelmeer ertrinken, an Aids, leicht heilbaren Krankheiten oder an Nahrungsmangel
  608. sterben. Ihre Vernichtung ist lautlos. Die Sprache, in der manchmal über ihren Tod
  609. berichtet wird, und die seltsame Folgenlosigkeit demonstrativen Mitleids verraten den
  610. stählernen Willen, so viele wie möglich sterben zu lassen.
  611. Deutschland ist dichter besiedelt (231 Einwohner pro Quadratkilometer) als Nigeria,
  612. das bevölkerungsreichste Land Afrikas (152 Einwohner pro km2). In den Niederlanden
  613. leben mehr Menschen (400 Einwohner pro km2) als in Indien (382 Einwohner pro km2).
  614. Ägypten liegt mit 81 Menschen pro Quadratkilometer unter Österreich (100 Einwohner
  615. pro km2) und der Schweiz (184 Einwohner pro km2). Israel (341 Einwohner pro km2) und
  616. Japan (337 Einwohner pro km2) haben eine bald dreimal so große Bevölkerungsdichte
  617. wie China (135 Einwohner pro km2). Hat schon jemals irgendwer ernsthaft die
  618. Überbevölkerung Monacos (16 620 Einwohner pro km2) gegeißelt? Niemand hat bisher
  619. verlangt, die deutsche Bevölkerung gewaltsam an ihrer Vermehrung zu hindern – im
  620. Gegenteil, es wimmelt nur so von Versuchen, »deutsches Erbgut« zu mehren.
  621. In den Publikationen des ökologisch besorgten Bürgertums finden sich martialische
  622. Begriffe wie »Bevölkerungsbombe«, »Bevölkerungsexplosion«, »Überbevölkerung«,
  623. »Menschenfluten«. Sie unterstellen, dass nicht der Kapitalismus, sondern die »zu vielen«
  624. Menschen im Trikont3 die Natur bedrohen. Mancherorts müssen Menschen für
  625. Lebensmittel, medizinische Versorgung oder Bildung zahlen, indem sie sich
  626. zwangssterilisieren lassen. Man nennt es »Bevölkerungspolitik«. Das Bild von der zu
  627. kleinen Erde, auf der sich die Armen hemmungslos fortpflanzten, während die
  628. Lebensmittelproduktion stagniere, ist ein prominentes Klischee der Inhumanität. Es
  629. übermalt viele gesellschaftliche Defizite, deren wahre Ursachen unerhellt bleiben. Statt
  630. zu fragen: »Wie viele Menschen erträgt die Erde?«, müsste es lauten: Wie viel
  631. Kapitalismus ertragen der Mensch und die Natur noch?
  632. Tatsächlich wächst die Lebensmittelproduktion schneller als die Erdbevölkerung. Es
  633. ist auch in Zukunft genug da, um alle Menschen zu ernähren. Hunger ist allein ein
  634. Problem der Verteilung, des Mangels an Kaufkraft, der kapitalistisch beschleunigten
  635. Wüstenbildung und des Missbrauchs fruchtbaren Landes. Neuere Forschungen lassen
  636. vermuten, dass die Zahl der Weltbevölkerung ab etwa 2060 stagnieren, sich
  637. möglicherweise sogar zurückentwickeln wird. Aber seit wann sind Tatsachen eine
  638. wirkungsvolle Waffe gegen soziale Verachtung und Rassismus?
  639. Hohes Ansehen genießen in Deutschland Organisationen, welche »die
  640. Bevölkerungsexplosion im Süden« für die größte Bedrohung der Erde halten,
  641. beispielsweise der Club of Rome. In ihm organisieren sich Angehörige der Oberschicht:
  642. Konzernvorstände, Aufsichtsräte, Banker, Manager, Politiker, Wissenschaftler. Keiner
  643. will mit der kapitalistischen Produktionsweise brechen. Sie plädieren u. a. für den
  644. »Klimaschutz durch Atomenergie« und für die nächste Stufe der Atomtechnologie: die
  645. Atomfusion.
  646. Zu den deutschen Mitgliedern gehört beispielsweise Liz Mohn, Aufsichtsratsmitglied
  647. der Bertelsmann AG und Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung, die in Deutschland
  648. die Privatisierung öffentlichen Reichtums aggressiv vorantreibt. Auf Vorschlägen der
  649. Bertelsmann Stiftung beruhten die Hartz- und die Agenda-2010-Beschlüsse der
  650. SPD/Grünen-Bundesregierung (1998–2005). Club-Mitglied Franz-Josef Radermacher,
  651. ehemals Präsident des Bundesverbandes für Wirtschaftsförderung und Außenwirtschaft,
  652. plädierte nach der Atomkatastrophe von Fukushima für die Laufzeitverlängerung von
  653. Atomkraftwerken. Einflussreich ist auch der Burschenschaftler und Wirtschaftsführer
  654. Eberhard von Koerber, Ex-Vorstand bei BMW, heute Chef eines
  655. Finanzberatungsunternehmens. Der Energie- und Elektrokonzern ABB, dessen
  656. Vorstandsvorsitzender von Koerber auch war, ist zum Beispiel am neokolonialen
  657. Solargroßprojekt Desertec in Nordafrika beteiligt.
  658. Im letzten Jahr luden die Grünen im Bundestag ausgerechnet Dennis Meadows, Co-
  659. Autor der Club-of-Rome-Studie Grenzen des Wachstums (1972) zum Vortrag über den
  660. Zusammenhang von Bevölkerungswachstum und Natur. Wesentliche Prognosen des
  661. Clubs haben sich als unzutreffend herausgestellt, aber das spielt keine Rolle. Erst halfen
  662. die Grünen Kriege durchzusetzen, jetzt ist es ihre Hauptaufgabe, öffentlichkeitswirksame
  663. »ökologische Argumente« zur noch erfolgreicheren Durchsetzung von Kapitalinteressen
  664. zu finden.
  665. Die Versorgung der »Unproduktiven« mindert den Profit. Die Unterstellung, dass die
  666. »Überflüssigen« an ihrer sozialen Lage »selbst schuld« seien, ist für die Profitierenden
  667. sehr nützlich. Sie versuchen zu belegen, dass nicht die kapitalistische Produktionsweise,
  668. sondern eherne »Naturgesetze« den Hungertod so vieler Menschen zu verantworten
  669. haben. Vielerorts wird dafür der Malthusianismus zu neuem Leben erweckt. Thomas
  670. Robert Malthus (1766–1834) unterstellte in seinem Buch Essay on the Principle of
  671. Population (1798/1803), dass die Zahl der Menschen sich exponentiell (1, 2, 4, 8 usw.)
  672. entwickle, die Produktion von Lebensmitteln hingegen nur linear (1, 2, 3, 4 usw.). Schuld
  673. an der Bevölkerungsentwicklung sei die hemmungslose Vermehrung der Armen. Den
  674. anglikanischen Landpfarrer ekelten die Armen in den Slums der englischen
  675. Industriestädte.
  676. Die Armengesetze des Feudalismus hatten den Menschen noch das Recht auf Nahrung
  677. und ein Dach über dem Kopf zugestanden. Malthus nahm es ihnen: Ein Mensch habe
  678. »nicht das mindeste Recht, irgendeinen Teil von Nahrung zu verlangen«, wenn seine
  679. Familie ihn nicht ernähren könne und »wenn die Gesellschaft seine Arbeit nicht nötig
  680. hat«, sei er »wirklich zu viel auf der Erde. Bei dem großen Gastmahle der Natur ist
  681. durchaus kein Gedecke für ihn gelegt. Die Natur gebietet ihm abzutreten, und sie säumt
  682. nicht, selbst diesen Befehl zur Ausführung zu bringen.«4 Wer diesem Eindringling am
  683. reich gedeckten Tisch der Natur Platz mache, sagte Malthus, locke nur weitere
  684. Eindringlinge an. Statt Fülle herrsche dann Mangel, und bald werde das Vergnügen der
  685. Gäste durch das menschliche Elend gestört, das sie mit ansehen müssen. Es sei »völlig
  686. natürlich«, dass nur eine Minderheit der Menschen gebildet, sittlich wertvoll und
  687. wohlhabend sei und dass es auf der Welt immer zu viele arme, unbrauchbare Menschen
  688. geben werde. Die Unterstützung der Armen sei unsinnig, weil sie sich dadurch bloß
  689. vermehrten, Hilfe belohne Trägheit und Laster und stimuliere die Kinderzahl. Die Natur
  690. spreche diesen Menschen das Existenzrecht ab, man müsse ihre Zahl beschränken.
  691. Friedrich Engels nannte Malthus’ Theorie »die offenste Kriegserklärung der Bourgeoisie
  692. gegen das Proletariat«.
  693. An allen Ecken und Enden blitzt heute die Malthussche Inhumanität auf. Für viele
  694. konservative und rechte Ökologen, Ökonomen und Politiker ist die »Überbevölkerung«,
  695. vorzugsweise als »Sorge um die Natur« verkleidet, ein zentrales Problem. 2011: Dem Ex-
  696. Bundeskanzler Helmut Schmidt klatschte dafür ein SPD-Parteitag Beifall. Joseph Deiss,
  697. Ex-Bundespräsident der Schweiz und Ex-Präsident der UNO-Generalversammlung,
  698. huldigte auf einem Wirtschaftskongress Malthus. Das Bevölkerungswachstum in
  699. Deutschland und der Schweiz beunruhige ihn nicht, das nähme ja ab. Für den Rest der
  700. Welt habe Malthus »vor 200 Jahren [alles] gesagt, und die Lektionen der Geschichte sind
  701. immer noch nicht bekannt. Das ist ein Bereich, der sich von selber regelt.«5
  702. [Hervorhebung J. D.]
  703. Malthus wird seit 200 Jahren widerlegt. Aber seine Thesen sind zu nützlich, um sie
  704. den Fakten zu opfern. Was die »Protokolle der Weisen von Zion« für den Antisemitismus
  705. sind, das ist die Malthussche Ideologie für die Entwertung der Menschen im Trikont.
  706. Der einflussreiche US-Ökologe Garrett Hardin6 ersetzte Malthus’ Bild vom »Fest an
  707. der reich gedeckten Tafel der Natur« durch das Bild vom Rettungsboot, in dem »wir alle«
  708. sitzen und das sinke, sobald sich zu viele Ertrinkende auf stürmischer See darauf retten
  709. könnten. Er bezog dieses Gesetz ausdrücklich auf die Einwanderungs- und
  710. Flüchtlingspolitik der kapitalistischen Staaten:7 »Übermäßig fruchtbare« Menschen in
  711. ein wohlhabendes Land einzuladen sei eine »Politik des nationalen Selbstmordes«, sogar
  712. des Selbstmordes der Spezies Mensch.8 Es sei daher, sagt Hardin, unsinnig, auf
  713. universellen Menschenrechten zu bestehen.
  714. In inhumaner Tradition stehen auch andere Repräsentanten des rechten Flügels der
  715. Umweltschutz- und Ökologiebewegung, zum Beispiel Konrad Lorenz, Max Otto Bruker
  716. und Herbert Gruhl. Noch im Berliner Wahlkampf von 2011 bezog sich ein
  717. Spitzenkandidat der Ökologisch Demokratischen Partei positiv auf ÖDP-Parteigründer
  718. Gruhl.9 In der Natur, sagte Sozialdarwinist Gruhl, herrsche ständiger Anpassungsdruck,
  719. fortwährende Leistungsbereitschaft, überall Todesdrohung, keine Gnade – nirgends.
  720. Diese »Naturgesetze« übertrug er auf die menschliche Gesellschaft, jedes soziales Netz
  721. sei demzufolge »unnatürlich«. Wozu Einwanderung erlauben? Auch Gruhl drohte den
  722. »zu vielen« mit dem Tod: »Für einige überfüllte Populationen [er meint Menschen; J. D.]
  723. mag dann Gewalt oder sogar die Atombombe eines Tages keine Drohung mehr sein,
  724. sondern Befreiung.«10
  725. Die ökologische ist ein untrennbarer Teil der sozialen Frage. Die Lohnarbeitenden sind
  726. gezwungen, an ihrer eigenen Gesundheitsschädigung mitzuarbeiten, um zu leben. So
  727. verarmen sie auch ökologisch. Für ihr Kranksein erklärt man sie anschließend – wegen
  728. schlechter Lebensführung – für »selbstverantwortlich«, längst ein Orwellscher Begriff.
  729. Aber Menschen müssen die Natur bearbeiten, um zu leben. Wie diese Bearbeitung
  730. geschieht, welche Produktionsweise dabei zum Einsatz kommt, wer über sie wofür und zu
  731. wessen Nutzen verfügt, das sind die entscheidenden Fragen.
  732. Die Techniken und das Wissen, um allen Menschen ein würdiges Leben zu
  733. ermöglichen und zugleich die Natur in einem menschenfreundlichen Zustand zu
  734. erhalten, sind längst entwickelt. Insofern ist die Utopie an ihrem Ende, wie Herbert
  735. Marcuse 196711 sagte: Alle Techniken sind entwickelt, um den Menschen und die Natur
  736. zu zerstören. Aber es sind auch alle Mittel gefunden, um die Welt zu einer
  737. menschenwürdigen zu machen. Doch die Ruinierung des Menschen und der Natur
  738. bleiben profitabler als ihr Glück und ihre Freiheit. Die Sache ist also niemals eine Frage
  739. fehlender Alternativen, sondern eine der Herrschaft von Staat und Kapital und wann, wie
  740. und mit welchem Ziel wir mit ihr brechen können.
  741. 4 WAS TUN
  742. Was also tun, wenn wir nicht in einem Land leben wollen, in dem bald Millionen
  743. Menschen im Ghetto eines mickrigen Grundeinkommens und einer schäbigen
  744. Grundrente existieren sollen? Wenn wir wollen, dass keiner früher stirbt, nur weil er arm
  745. ist, schlechte Lebens- und Arbeitsbedingungen hat und nie die bestmögliche
  746. Gesundheitsversorgung erfährt? Was tun, wenn wir nicht möchten, dass Menschen an
  747. den verrammelten Grenzen dieses Landes zerschellen? Wenn wir eine Gesellschaft nicht
  748. mehr ertragen, die von schreiender Ungleichheit durchtränkt ist? Wenn wir der
  749. Vernichtung der ökologischen Lebensgrundlagen nicht weiter zusehen wollen? Wenn wir
  750. nicht mehr erleben möchten, wie soziale Verachtung und Rassismus Kindern das
  751. Rückgrat brechen, so dass sie verwelken, bevor sie ihre Einzigartigkeit entfalten können?
  752. W e n n wir die Opposition gegen diesen Terror der »Normalität« in einer
  753. kapitalistischen Gesellschaft ernst meinen, hat das Konsequenzen für uns. »Wir« meint
  754. kritische Menschen und emanzipatorische Linke aller Arten, zu deren Grundsätzen die
  755. Freiheit auf Basis sozialer Gleichheit gehört, Menschen, die diese Programmatik nicht
  756. nur als heimlichen Traum in ihren Köpfen verbergen, sondern handeln wollen und
  757. Bündnispartner suchen.
  758. Eine solche emanzipatorische linke Politik ist während einer Weltwirtschaftskrise
  759. noch schwerer zu machen als zu anderen Zeiten – einerseits. Mit der Krise haben
  760. Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und die soziale Stigmatisierung von
  761. Langzeitarbeitslosen, Hartz-IV-Empfängern und Obdachlosen zugenommen. Ihre Würde
  762. wird längst angetastet. Angepasste Untertanen treten, wenn sie unter Druck geraten, gern
  763. nach unten, wälzen alle Risiken auf sozial Schwächere ab, während sie selbst sich dorthin
  764. durchzuprügeln versuchen, wo in dieser Gesellschaft »oben« zu sein scheint. Sie sind
  765. rassistisch, antisemitisch (auch wenn sie ihren Antisemitismus gelegentlich hinter
  766. wohlfeilen Bekundungen pro Israel verstecken), sie sind islamophob und beten Law and
  767. Order an, weil die herrschende ja ihre Ordnung ist und der Staat ihre Besitztümer und
  768. Privilegien verteidigen und den Untergang der anderen betonieren soll. Das Bewusstsein
  769. vieler Untertanen und Profiteure ist für rechtsradikales und faschistoides Denken
  770. anschlussfähig. Während wir also unsere Chancen zur Aufklärung und zur Erweiterung
  771. unserer sozialen Basis zu nutzen versuchen, wächst zugleich die Zahl unserer rechten
  772. Gegner, und die werden, wie nicht nur unsere tägliche Erfahrung zeigt, immer
  773. gewaltbereiter und gewalttätiger.12
  774. Andererseits aber zerbrechen in dieser Krise Gewissheiten, und sie zwingen human
  775. denkende, aber bislang unpolitische Menschen zur Auseinandersetzung mit einer
  776. Wirtschaftsweise, die jahrzehntelang nur bei Strafe des »Extremismusverdachts«
  777. Kapitalismus genannt werden durfte. Das ist eine Chance. Es wäre eine große und
  778. selbstverliebte Dummheit, anzunehmen, dass wir allein sind. Damit gingen wir den
  779. deutschen Verhältnissen auf den Leim, deren Massenmedien uns so gern einhämmern,
  780. dass wir marginal sind. Das dort abgebildete Leben hat mit der sozialen Wirklichkeit
  781. ohnehin nur wenig zu tun. Wir sind eine Minderheit, aber alle sozialen Bewegungen,
  782. auch die historisch erfolgreichen wie die Arbeiterbewegung, waren selbst zu ihren
  783. Hochzeiten Minderheiten, wenn auch organisierte Minderheiten.
  784. Die ersten Schritte politischen Denkens handeln meist von Dingen, die einen
  785. persönlich berühren. Diese Auseinandersetzung kann den Blick auf die Welt erweitern.
  786. Oder auch nicht, man kann auch im eigenen Nabel steckenbleiben. Ein anderes Scheitern
  787. ist die Illusion, wenn eine Organisation nur groß genug ist, ließe sich die Gesellschaft
  788. verändern. Reformistische Taktik und Strategie und Organisation aber sind Sackgassen,
  789. es hapert schon an ihren theoretischen Grundlagen. In falschen Bündnissen werden wir
  790. nicht mehr, nur falsch, und wenn es ganz dumm kommt, tragen wir zur Befriedung und
  791. Stabilisierung eben jener Verhältnisse bei, die wir umwerfen wollten.
  792. Ein Mittelschichtskind kann ein Zelt vor der Europäischen Zentralbank aufbauen, weil es
  793. empört darüber ist, dass seine Eltern ihr Erspartes verloren haben, oder weil es selbst
  794. keinen Job bekommt. Das ist nicht verwerflich. Wenn nun aber persönliche
  795. Abstiegsängste und der drohende Verlust von materiellen Annehmlichkeiten die Motive
  796. zu handeln andauernd dominieren, haben wir ein Problem. Denn dieses Interesse wäre ja
  797. schon damit befriedigt, dass dieser Mensch einen Job bekommt und seine Eltern einen
  798. anderen Weg finden, ihren Ruhestand zu finanzieren.
  799. Der Staat muss die Integrierbaren von den Systemkritikern trennen. Er weiß das,
  800. beobachtet, analysiert und bleibt milde, wo ihm keine Gefahr droht. Das Frankfurter
  801. Occupy-Camp wurde von Polizei, Ordnungsamt, Bankern und Medien zugrunde gelobt.
  802. Occupy in Deutschland ist keine soziale Bewegung, schon gar keine linke. In einigen
  803. Städten der USA verband sich der Protest von Angehörigen der Mittelschicht und des
  804. Kleinbürgertums mit fortschrittlichen Teilen der Arbeiter- und Bürgerrechtsbewegung. In
  805. der Bundesrepublik aber finden wir bei Occupy kein emanzipatorischlinkes oder
  806. sozialrevolutionäres Selbstverständnis, stattdessen politische Unverbindlichkeit,
  807. Intellektuellenfeindlichkeit, Konfliktscheu, Harmoniestreben, Sehnsucht nach
  808. Reputation und – trotz intensiver Kritik von Linken – eine weit offene Flanke für
  809. Rechtspopulistisches, Nationalistisches und für den Antisemitismus.
  810. Der törichte Slogan »Wir sind 99 Prozent« unterstellt, dass Teile der Oberschicht und
  811. di e gesamte Mittelschicht zum sozialen Protest zählten und auch ihre wohlhabenden
  812. Teile nicht zu den vom Kapitalismus Profitierenden gehörten. Der Spruch verrät die
  813. Abwesenheit noch der embryonalsten Form von Klassenanalyse. Am Kapitalismus
  814. beklagt Occupy im Wesentlichen nur die »falsche« Politik der Banken, nicht Ausbeutung,
  815. nicht Profit, nicht Mehrwertproduktion, nicht Lohnarbeit, nicht Naturvernichtung. Aber
  816. wenn die Bedingungen kapitalistischer Verwertung unbegriffen bleiben, kippen die
  817. Annahmen über die Ursache der Misere ins Verschwörungstheoretische. Abstrakte
  818. Strukturen zu durchdringen ist anstrengende Kopfarbeit, da ist es einfacher, jüdische
  819. Weltverschwörungen zu erfinden.
  820. Occupy Deutschland lobt die eigene Toleranz über alle Maßen. Man will das Gute und
  821. ist gegen das Böse und alle, alle können mitmachen – auch der Rechtsradikale und der
  822. Nazi, solange sie nicht um sich prügeln. Man will das »rein Menschliche« vertreten. Es
  823. herrscht die absolute Toleranz. Marcuse beschrieb diese »repressive Toleranz« als eine
  824. Haltung gegenüber »politischen Maßnahmen, Bedingungen und Verhaltensweisen […],
  825. die nicht toleriert werden sollten, weil sie die Chancen, ein Dasein ohne Furcht und Elend
  826. herbeizuführen, behindern, wo nicht zerstören. Diese Art von Toleranz stärkt die
  827. Tyrannei der Mehrheit.«13
  828. Occupys Art von Toleranz stärkte die politische Rechte. Sekten okkupieren Occupy
  829. Frankfurt, beispielsweise das Zeitgeist-Movement und die Anthroposophen. Rechte
  830. Gruppen haben sich von Anfang an breit gemacht und bestimmen Kommunikation und
  831. Kurs, zum Beispiel Vertreter der rassistischen, rechtspopulistischen Frankfurter Freien
  832. Wähler sowie Anhänger und Prediger der antisemitischen Wirtschaftstheorie Silvio
  833. Gesells.
  834. Es gibt überall auf der Welt Menschen, die so denken wie wir. Mehr als bisher müssen
  835. wir über alle kulturellen und sozialen Barrieren hinweg die Zusammenarbeit suchen.
  836. Häufig scheitert die Kooperation ja nicht an mangelnder inhaltlicher Übereinstimmung.
  837. Auch nicht an geografischen Entfernungen oder an der Sprache, sondern daran, dass wir
  838. uns nicht als mögliche Bündnispartner »sehen«, weil uns unsere Oberflächen
  839. wechselseitig fremd sind: Aussehen, Alter, Stil, Verhaltensweisen, Musik, Slang,
  840. Lebensform. Die in Scheinfreiheiten aufgelöste Individualität ist ein echtes Handicap.
  841. Vom Arbeiter bis zur Studentin, vom Künstler bis zur Ladenbesitzerin, von der
  842. Informatikerin bis zum Punk – hinter jeder Rolle und Funktion kann sich eine
  843. Reaktionärin verbergen oder eine potenzielle Aufständische, ein Revolutionär.
  844. Manchen kritischen Menschen scheint es leichter zu fallen, Befreiungskämpfe in
  845. anderen Ländern zu unterstützen, anstatt sich den Verhältnissen hier (auch) zu stellen.
  846. Aber wenn wir emanzipatorischen Widerstand überall wirksam unterstützen wollen,
  847. müssen wir uns hier mit Staat und Kapital auseinandersetzen: Sand ins Getriebe der
  848. großen Maschine werfen, ausbeuterische Pläne bremsen, Rohstoffkriege verhindern, die
  849. herrschende Ordnung stören und Konsense zerbrechen, die das System stabilisieren.
  850. Viele Stellschrauben sind hier. Jeder Schritt, der uns hier gelingt, erleichtert das Leben
  851. vieler Menschen anderswo, weil der deutsche Staat und das deutsche Kapital (ja, auch der
  852. moderne Imperialismus hat noch nationale »Heimatadressen«) großen, oft
  853. vernichtenden Schaden an Mensch und Natur in aller Welt anrichten.
  854. Die Bedingungen, unter denen wir in Deutschland für eine wirklich humane
  855. Gesellschaft kämpfen, sind anders als anderswo und anders als früher. Überall in der
  856. Geschichte haben sich, von ökonomischer Entwicklung, Ressourcen, Klima und Zufällen
  857. hervorgebracht, von Kriegen, technischen Entwicklungen und erfolgreichen wie
  858. misslungenen Revolutionen zu kulturhistorischen Besonderheiten geformt,
  859. unterschiedliche Bewusstseinlagen und Kampfbedingungen herausgebildet. Auch wenn
  860. wir an Deutschland manchmal verzweifeln: Die Verhältnisse und Mentalitäten sind nicht
  861. genetisch und nicht unabänderlich.
  862. In Deutschland herrschen besondere Bedingungen, nicht nur weil es in diesem Land
  863. noch nie eine erfolgreiche Revolution gegeben hat. Auch die angeblich »samtene« von
  864. 1989 war keine. Denn wie könnte eine Revolution daraus bestehen, eine aus vielerlei
  865. Gründen verfallende Staatlichkeit, eine nicht-kapitalistische, aber eben auch nichtsozialistische,
  866. bürokratische Kommandowirtschaft, durch eine viel effizientere
  867. kapitalistische Herrschaft abzulösen? Das wäre ja eine gänzlich konterrevolutionäre
  868. Interpretation.
  869. Auch hinsichtlich der Befriedung der Lohnabhängigen hat sich in all den Jahrzehnten
  870. und unter unterschiedlichen Regierungen die Kollaboration der Gewerkschaftsführungen
  871. mit dem Staat als Interessenvertreter des Kapitals leider bewährt. Hoffnungsschimmer
  872. gab es, wenn sich junge Lohnarbeitende nicht sogleich in den staatstragenden Konsens
  873. einbinden ließen und wenn unter den Einwandernden Arbeiter waren, die in diese
  874. rückständige Bundesrepublik ihre widerständigen, auch revolutionären Erfahrungen
  875. mitbrachten. Ohne diese Italiener, Spanier, Portugiesen und Griechen hätte es die
  876. industriellen Massenstreiks der 1960er und 1970er Jahre vermutlich nie gegeben.
  877. Vielleicht ist dies der Grund, warum in der Bundesrepublik mit dem Ende der
  878. Hochkonjunktur Ende der 1970er Jahre in den meisten Massenmedien die Hetze gegen
  879. »die Ausländer, die uns die Arbeitsplätze wegnehmen«, begann? Die Kunst sozialer
  880. Spaltung beherrschen Staat und Kapital wie nichts anderes.
  881. Wir können in Deutschland eine klassenbewusstere Arbeiterklasse, wie etwa in
  882. Frankreich, noch so sehr herbeisehnen, es ist vergeblich (was nicht heißt, dass der
  883. herrschende Block dort weniger reaktionär und gefährlich wäre als hier). Auch die in den
  884. Köpfen manch lateinamerikanischer Bevölkerungen verankerte Klarheit über die
  885. kapitalistische Welt können wir den Deutschen so wenig einimpfen wie die lebendigkämpferische
  886. Radikalität mancher südeuropäischer Demonstrationen.
  887. Was in Zeiten der Krise gelernt wird, ist ambivalent. Hunderttausende, wenn nicht
  888. Millionen von Menschen sind verarmt. Infolge der »Rettungsmaßnahmen« fürs Kapital
  889. und für die Banken verkümmern Kommunen – was wiederum die Lage der sozial
  890. Benachteiligten verschlimmert. Wenn sich aber die stets verheißungsvollen
  891. Zukunftsaussichten auch für die Mittelschicht trüben, deren Kinder nun, obwohl
  892. akademisch gebildet, keine Jobs mehr bekommen, wenn Hypothekenraten auch von
  893. bisher materiell Gesicherten nicht mehr bedient werden können und sich Perspektiven in
  894. Luft auflösen? Dann erfährt der Staat auch Proteste von ungewohnter Seite, die – falls sie
  895. mit den emanzipatorischen Protesten anderer verschmelzen – eine Gefahr für ihn
  896. bedeuten. Denn der Staat kann nicht mehr sein, was der »normale Bürger« von ihm
  897. erwartet. Er verliert an Autorität und steckt in einer tiefen Legitimationskrise. Aber die
  898. kann auch eine weitere Rechtsverschiebung bedeuten, das ist die Dialektik der Krise.
  899. Deutschland gehört noch zu den Staaten der Welt, die von der Krise relativ profitieren.
  900. Die deutschen Niedriglöhne ließen die deutsche Exportquote in den Himmel schießen,
  901. darüber brachen Märkte in anderen europäischen Staaten zusammen, unter anderem weil
  902. sie die Rechnungen für deutsche Produkte, auch für Rüstungsgüter, nicht mehr bezahlen
  903. konnten. Über Deutschland steht gleichsam das Auge des Hurrikans, die wirklich
  904. vernichtenden Stürme peitschen über andere Teile Europas und der Welt hinweg.
  905. Mächtige Kapitalfraktionen, die von der Krise, die sie verursacht haben, nun auch
  906. profitieren, konnten sich stets auf willfährige Regierungen stützen. SPD und Grüne
  907. dürfen hoffen, dass die sozialen Verbrechen ihrer Regierungszeit (1998–2005), darunter
  908. die einschneidenden Steuerersparnisse für Reiche, die Deregulierung der Finanzmärkte,
  909. die Aufweichung von Tarifverträgen sowie die immense Verarmung großer
  910. Bevölkerungsschichten, schnell vergessen und am besten der politischen Konkurrenz von
  911. CDU/CSU und FDP angelastet werden, die ja kein bisschen besser ist.
  912. Wie geht der Staat vor, um die Gefahr sozialer Unruhen zu bändigen? Er hat längst
  913. gelernt, nicht alle Opponierenden auf die gleiche Weise zu behandeln. Seine Erfahrungen
  914. mit der außerparlamentarischen Opposition der 1960er und 1970er Jahre lehrten ihn,
  915. dass zu viele Knüppel, die gleichzeitig auf zu vielen verschiedenen Köpfen zerdroschen
  916. werden, das soziale Lernen beschleunigen und selbstbewusste Widerstandskollektive
  917. gegen Staat und Kapital gedeihen lassen.
  918. Der Staat muss seine Repressionen den verschiedenen sozialen Milieus immer feiner
  919. anpassen, um den Widerstand zu spalten, ihn zu schwächen und zu marginalisieren. Alle
  920. politischen Generationen der neuen Linken – ich kalkuliere pro »Generation« rund vier
  921. Jahre – haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten die Erfahrungen von Ignoranz,
  922. Demütigung, Überwachung, Verfolgung und oft auch nackter Repression gemacht. Alle,
  923. die sich widerständig organisierten, wurden überwacht und erfasst. Besonders brachial
  924. ging der Staat gegen junge Linke vor, die sich – ob in Wohngemeinschaften, Cafés, Parks,
  925. auf Straßen oder in Universitäten – neu organisierten. Der reine aufmüpfige Gedanke,
  926. solange er in Salons und Elfenbeintürmen verbleibt, ist meist ungefährlich. Geht er aber
  927. auf die Straße und organisiert sich, wird die Sache ernst. Der Staat versucht systematisch,
  928. solche jungen Linken einzuschüchtern.
  929. Was also tun? Jede Behinderung der Beladung eines Frachters mit hochgiftigem
  930. Computerschrott oder Rüstungsgütern lässt anderswo weniger Menschen an Krebs und
  931. Krieg sterben. Jeder Belagerung eines Chemiekonzerns, einer Atomanlage, eines
  932. Rüstungsbetriebs oder des Bauplatzes der Europäischen Zentralbank geht eine Analyse
  933. voraus, welche die Aktion begründet und vorbereitet. Jede konkrete Praxis verlangt die
  934. Einübung von Kritik, technischen Fertigkeiten und von Solidarität. Wenn eine politische
  935. Aktion schiefgeht, obwohl sie gut begründet und vorbereitet ist, ist dies keine Frage von
  936. »Schuld«. Das Merkwürdige ist ja, dass sich aus einem Scheitern auf hohem Niveau fürs
  937. nächste Mal mehr lernen lässt als aus einem vom schieren Zufall begünstigten Erfolg.
  938. Jede gut vorbereitete Aktion löst Denkprozesse aus und hinterlässt die Welt und die
  939. Handelnden verändert.
  940. Was ist zu tun? Theorie, Aktion, Organisation.
  941. Theorie ist Kopfarbeit, lesen, denken, analysieren. Das ist anstrengend, lässt sich aber
  942. lernen, und es geht leichter im Kollektiv. Lesen: Karl Marx, mit ihm eignet man sich die
  943. Kapitalismusanalyse an, die Methode, das Kopfwerkzeug, mit der Wirklichkeit
  944. umzugehen. Dann zum Beispiel Rosa Luxemburg, Herbert Marcuse, Hans-Jürgen Krahl.
  945. Theorie ist keine Gebrauchsanweisung für die Aktion, aber Bedingung zur Erkenntnis
  946. der Welt und Ausgangspunkt zur Begründung und Überprüfung politischer Praxis.
  947. Theorie speist sich aus der Empirie. Wenn der Intellektuelle sich nur an den schönen
  948. Worten um ihrer selbst willen ergötzt, schwebt die Theorie davon und wird
  949. bedeutungslos oder Unterhaltung. Ohne theoretisches Rüstzeug versinkt die Praxis im
  950. Sumpf der Mittelmäßigkeit und hält dem Druck der feindseligen herrschenden
  951. Verhältnisse nicht stand. Die Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse hilft uns auch,
  952. die strategische Entscheidung zu treffen, für welchen der überwältigend vielen
  953. gesellschaftlichen Konflikte wir uns entscheiden. Wir sind schließlich eine Minderheit,
  954. die sich nicht verzetteln, sondern eine maximale Wirkung entfalten will.
  955. Bei der Aktion kommt es nicht darauf an, um jeden Preis einen Fehlschlag zu verhindern.
  956. Das könnte letztendlich ja nur dadurch garantiert werden, dass man den Versuch gar
  957. nicht erst unternimmt. Wenn man ohne Erfolgsgarantie gar nicht anfangen will, bleibt
  958. nur trostlose Erstarrung. Eine kluge politische Aktion ist gut vorbereitet, außer sie
  959. entsteht spontan, weil wir zum Beispiel einschreiten müssen, wenn Nazis einen
  960. Menschen zusammenschlagen. Es geht bei Aktionen um vielerlei: aufklären, etwas
  961. verhindern, Angst überwinden, Grenzen der Legalität austesten, Erfahrungen sammeln,
  962. theoretische Erkenntnisse überprüfen, Solidarität praktizieren und strategisch gewählte
  963. Konflikte polarisieren.
  964. Eine kluge politische Aktion ist kein Selbstzweck, sondern Teil eines Konzepts. Sie
  965. muss neben den politischen Zielen auch die Ängste, Stärken und Lernfähigkeit der
  966. Teilnehmenden berücksichtigen. Im besten Fall ist sie auch öffentlich gut vermittelbar.
  967. Es gibt aber auch Aktionen, die notwendig sind und schwer oder erst einmal nicht
  968. vermittelbar. Die Handelnden müssen sie vor sich selbst verantworten. Und danach wird
  969. die Aktion ausgewertet.
  970. Theorie und Aktion brauchen die Organisation als Rahmen für theoretische
  971. Lernprozesse und als Träger für die Aktion. Diese Organisation soll eher keine Partei sein,
  972. aber auch die Fehlorientierung aufs lockere, unverbindliche Netzwerkeln sollte sich
  973. inzwischen erledigt haben.
  974. Manchmal hat man den Eindruck, kritische Menschen in Deutschland sind besonders
  975. organisationsfeindlich und individualisiert. In ihrer Arbeitszeit und in der so genannten
  976. Freizeit unterwerfen sie sich unendlich vielen fremden Zwängen. Sich aber
  977. selbstbestimmt mit anderen zusammenzuschließen, um die Gesellschaft zu verändern,
  978. erscheint ihnen als lästiger Zwang und nicht als das, was es sein kann: ein
  979. selbstbestimmter, befreiender Akt.
  980. In neueren sozialen Gruppen wird manchmal aus der korrekten Forderung nach
  981. antihierarchischen Strukturen die Missachtung politischer Erfahrungen und die Ignoranz
  982. gegenüber der Geschichte sozialer Bewegungen. Ein falscher Begriff von »Gleichheit«
  983. verklebt die Köpfe. Auf diese Weise setzen sich heimlich, bevor neue basisdemokratische,
  984. sozialistische oder rätekommunistische Strukturen gefunden sind, informelle
  985. Hierarchien und Intransparenzen durch, und eine Bewegung verblödet oder stirbt ab.
  986. Hans-Jürgen Krahl, ein kluger Kopf der außerparlamentarischen Opposition der
  987. 1960er Jahre, sagte: »Die Massen sind in der autoritären Leistungsgesellschaft von
  988. Erziehung, Manipulation und exekutiver Indoktrinierung so sehr auf Autoritäten fixiert,
  989. dass sie zunächst für ihre Aufklärung selber Autoritäten – und zwar solche, die sich als
  990. kritische Autoritäten begreifen – nötig haben.«14 Also, klare, gewählte Strukturen mit
  991. konkreten Verbindlichkeiten, jederzeitige Abwählbarkeit und gut organisierte
  992. Lernprozesse. Die »antiautoritären Autoritäten«, wie ich sie nenne, müssen vom ersten
  993. Moment an an ihrer Ablösung arbeiten.
  994. Jede Organisation braucht – so nötig wie die richtige Strategie und Taktik – eine
  995. Struktur und Aufgabenverteilung. Jede Organisation, die ihren Grund, also ihr Programm
  996. ernst nimmt, besteht auf Verbindlichkeit und fordert sie ein. Zweck der Organisation ist
  997. nicht die Organisation, sondern das Programm und dessen Umsetzung. Organisiert wird
  998. nach Inhalt, nicht nach Personenzahl. Es ist ziemlich leicht und für manch einen
  999. Frustrierten verführerisch, sich in schwierigen Zeiten in großen, reformistischen
  1000. Organisationen zu verstecken. Aber so setzt niemand emanzipatorische Ziele durch,
  1001. sondern wird Teil des Falschen.
  1002. Man sollte sich eine Organisation danach aussuchen, ob man das in ihr lernen kann,
  1003. was man lernen will, um weiterzukommen. Danach, ob man dort Menschen findet, die
  1004. bei aller Verschiedenheit in den Grundfragen wirklich einig sind. Wenn eine Organisation
  1005. etwas taugt, dann ist sie auch ein »Ort«, um Sachen zu verhandeln, streiten zu lernen,
  1006. qualifiziert zu kritisieren und sich mit Kritik auseinanderzusetzen. Eine Organisation
  1007. aber, in der qualifizierte Kritik (kein Genörgel) tabuisiert ist, sei es aus Unsicherheit,
  1008. esoterischer Harmoniesucht oder wegen der Unantastbarkeit von Hierarchien, ist
  1009. unverzüglich zu verlassen.
  1010. Eine Organisation, sei sie klein oder groß, ist, wenn es gutgeht, ein Gegengewicht zur
  1011. korruptiven Integrationskraft kapitalistischer Verhältnisse. Und wenn die Zeiten günstig
  1012. sind (wir haben ja nicht alles in der Hand), bewegen wir uns inmitten einer oder
  1013. mehrerer mitreißender Subkulturen, die unsere Grundprinzipien widerspiegeln und auch
  1014. noch höllisch Spaß machen können. Wenn es gutgeht, kann man mit einigem Glück
  1015. erleben, wie Menschen ihre Angst überwinden und wie sie lernen, sich selbst zu befreien.
  1016. Ob die Theorie zuerst kommt die Aktion oder die Organisierung ist oft biografischer
  1017. Zufall. Tatsache aber ist: Es geht langfristig, willst du ernsthaft etwas verändern, nicht
  1018. ohne diesen Dreiklang.
  1019. Aber nichts ist wirklich fertig, bevor die Auseinandersetzung beginnt. Es ist ein
  1020. Prozess. Herbert Marcuse schrieb: »Die gesellschaftlichen Träger der Umwälzung, und
  1021. das ist orthodoxer Marx, formieren sich erst in dem Prozess der Umwälzung selbst, und
  1022. man kann nicht mit einer Situation rechnen, in der die revolutionären Kräfte sozusagen
  1023. ready-made vorhanden sind, wenn die revolutionäre Bewegung beginnt.«15
  1024. Wir werden sehen.
  1025. ANMERKUNGEN
  1026. 1 Max Horkheimer: »Die Juden und Europa«, in: Zeitschrift für Sozialforschung 8(1939), S. 115
  1027. 2 Blutige Handys (Blood in the Mobile), Film von Frank Piasecki Poulsen, Dänemark 2010. Phoenix, 28.9.2011, 21.00
  1028. Uhr
  1029. 3 Sammelbegriff für die drei unterentwickelt gehaltenen Kontinente Afrika, Lateinamerika und Asien
  1030. 4 Thomas Robert Malthus: An Essay on the Principle of Population, 2nd enlarged ed., London: J. Johnson, 1803, S.
  1031. 531
  1032. 5 »8. Schaffhauser Wirtschaftsimpulse: »Wachstum – Fluch oder Segen?« am 16. 9. 2011 in Schaffhausen/Schweiz,
  1033. Podiumsdiskussion
  1034. 6 Garrett Hardin: »The Feast of Malthus – Living within limits«, in: The Social Contract, Frühling 1998
  1035. 7 Ebd.
  1036. 8 Ebd.
  1037. 9 ÖDP-Kandidat Christian Schantz lt. Benjamin Quiring: »Orange ohne Revolution«, die tageszeitung, nachgedruckt
  1038. in: ÖDP (Hrsg): Ökologie Politik – Das ÖDP-Journal Nr. 152, November 2011, S. 30
  1039. 10 Herbert Gruhl: Himmelfahrt ins Nichts, München: Langen Müller Verlag 1992, S. 244. Gruhl zitiert hier
  1040. zustimmend: René Dubos: Der entfesselte Fortschritt. Programm für eine menschliche Welt, Bergisch Gladbach: G.
  1041. Lübbe Verlag 1970, S. 166
  1042. 11 Herbert Marcuse: »Das Ende der Utopie«, in: ders.: Das Ende der Utopie. Vorträge und Diskussionen in Berlin 1967,
  1043. Frankfurt/Main: Verlag Neue Kritik 1980, S. 9–18
  1044. 12 Das belegt z. B. diese Studie: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 10, Frankfurt/Main: Suhrkamp
  1045. 2011
  1046. 13 Herbert Marcuse: »Repressive Toleranz«, in: Robert L. Wolff / Barrington Moore / Marcuse: Kritik der reinen
  1047. Toleranz, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996
  1048. 14 Hans-Jürgen Krahl: »Autoritäten und Revolution«, in: ders.: Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt/Main:
  1049. Verlag Neue Kritik 1971, S. 256–259
  1050. 15 Herbert Marcuse: »Das Ende der Utopie«, a. a. O., S. 11 f.
  1051. DANK, HINWEIS & KONTAKT
  1052. Dank: Ich danke meinen FreundInnen für Diskussionen. Wie immer danke ich Manfred
  1053. Zieran für seine kluge und im besten Sinn rücksichtslose Kritik. Hinweis: Weitere
  1054. Informationen über meine Bücher, Texte, das Ulrike-Meinhof-Archiv, Termine meiner
  1055. Vorträge und Lesungen usw. auf: www.jutta-ditfurth.de. Kontakt: Über Anregungen und
  1056. Kritik freue ich mich. Ich lese alles, verspreche aber nicht, dass ich antworte: Jutta
  1057. Ditfurth, c/o ÖkoLinX-ARL, Bethmannstr. 3, 60311 Frankfurt/Main. E-Mail:
  1058. jutta.ditfurth@t-online.de.
  1059. BÜCHER DER AUTORIN
  1060. Die tägliche legale Verseuchung unserer Flüsse und wie wir uns dagegen wehren können.
  1061. Ein Handbuch mit Aktionsteil (Hrsg. mit R. Glaser), Hamburg: Rasch & Röhring 1987.
  1062. Träumen Kämpfen Verwirklichen. Politische Texte bis 1987, Köln: Kiepenheuer & Witsch
  1063. Verlag 1988.
  1064. Lebe wild und gefährlich. Radikalökologische Perspektiven, Köln: Kiepenheuer & Witsch
  1065. Verlag 1991.
  1066. Was ich denke. Anders oder gleich. Über die Entwertung des Menschen, München:
  1067. Goldmann Verlag 1995.
  1068. Blavatzkys Kinder. Krimi, Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe Verlag 1995.
  1069. Feuer in die Herzen. Gegen die Entwertung des Menschen, Hamburg: Konkret Literatur
  1070. Verlag 1997, 3. erweit. u. vollst. überarb. Neuausg., (1. Ausg.: 1992).
  1071. Entspannt in die Barbarei. Esoterik, (Öko-)Faschismus und Biozentrismus, Hamburg:
  1072. Konkret Literatur Verlag 2011, (1. Aufl.: 1997).
  1073. Das waren die Grünen. Abschied von einer Hoffnung, München: Econ Taschenbuch
  1074. Verlag 2001, (1. Aufl. 2000).
  1075. Ulrike Meinhof. Die Biografie, Berlin: Ullstein Taschenbuch Verlag 2009, (1. Ausg.: 2007).
  1076. Bisher auch in Schweden, Norwegen, den Niederlanden, der Türkei und Griechenland.
  1077. erschienen.
  1078. Rudi und Ulrike. Die Geschichte einer Freundschaft, München: Droemer Verlag 2008.
  1079. Zeit des Zorns. Streitschrift für soziale Gerechtigkeit, München: Droemer Verlag 2009.
  1080. Die Himmelsstürmerin. Roman, Berlin: Rotbuch Verlag 2010, (1. Ausg.: 1998).
  1081. Krieg, Atom, Armut. Was sie reden, was sie tun: die Grünen, Berlin: Rotbuch Verlag 2011.
  1082. Durch unsichtbare Mauern. Wie wird so eine links?, Berlin: Rotbuch Verlag 2011, (1.
  1083. Ausg.: 2002).
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